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So gerupft gehen wir alle aus der Lebensandacht hervor, dachte ich bei mir. Früher oder später zieht das Herz einen geknickten Fuß nach. Oder man verliert die Locken des Mutes.

Nach dem Essen, als ich noch einen Augenblick in deines Vaters Schreibzimmer im Ledersessel saß, las und rauchte und auf deinen Vater wartete, der sich zum Ausgehen umzog, da tönte des gerupften blankschädligen Vögeleins Singstimme aus dem Nebenzimmer.

O, er sang, als wäre er gerührt über sich selbst. Er sang so schmelzend und zärtlich, als hätte dein Bruder Nickel einen Spiegel geholt und der Kanarienvogel hätte sein verunglücktes Bild im Glase gesehen. Und er sang, um den trauernden gerupften Vogel im Spiegel zu trösten, sein lebenssüßestes Lied. Denn er erkannte sich selbst nicht und glaubte für einen Fremden zu singen.

Da hätte ich gewünscht, Oda, du hättest mit meinen Ohren hören, mit meinen Augen sehen können.

Ich habe Wiedersehen gefeiert mit eigenem Leid. In deinen sechzehnjährigen Augen sehe ich meine eigenen Gebrechen wie in einem Spiegel, alle Wunden, die mir das Leben angetan.

Empfohlene Zitierweise:
Max Dauthendey: Geschichten aus den vier Winden. Albert Langen, München 1915, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Geschichten_aus_den_vier_Winden_Dauthendey.djvu/207&oldid=- (Version vom 31.7.2018)