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Und doch erholte ich mich, und langsam, ganz langsam kam mit der wachsenden Kraft die Freude am Leben wieder. Als ob er mir Dank schuldig wäre, weil ich lebte, so überschüttete mich mein Vater nun mit Geschenken: erwartungsvoll sah ich schon nach der Tür, wenn ich mittags den Schritt des Heimkehrenden hörte; Bücher, Blumen, Obst, Bonbons, – irgend etwas brachte er mir täglich. Wie gut waren überhaupt die Menschen, sie kümmerten sich alle um mich: jeden Tag hatte mein Lehrer den Arzt vor dem Hause erwartet, um direkte Nachricht zu haben, und jetzt schickte er mir seine schönsten Bücher; kein Regiment in der Stadt gab es, dessen Musikkorps der Genesenden nicht ein Ständchen gebracht hätte, und der gute alte General Kirchbach kam selbst in mein Krankenzimmer, um mir eine – Puppe auf die Kissen zu legen.

„Mit der Puppe, Mama, soll mal mein Töchterchen spielen!“ sagte ich lächelnd, als er weg war, – denn mit dem Spielen war es für mich endgültig vorbei.

Nach drei Monaten sollte ich aufstehen; als ich mich grade erheben wollte und, von heftigem Schwindel gepackt, nach dem Bettpfosten griff, sah ich Blut auf dem Laken. Ich erschrak, denn ich wollte gesund sein. Aber schon hatte der Arzt mich umfaßt und sanft in die Kissen zurückgedrückt. Er lachte: „Also so stehts mit dem kleinen Fräulein! Die Kinderschuhe hat es richtig ausgetreten.“ Verständnislos sah sah ich die Mutter an, der das Blut in die Schläfen gestiegen war. „Alles Nötige werden Sie Ihrer Tochter erklären,“ damit wandte er sich zum Gehen. „Sie ist erst zwölf Jahre, Herr Doktor –“ entgegnete sie zögernd. „Tut nichts

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/107&oldid=- (Version vom 31.7.2018)