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– tut nichts – so schwere Krankheiten bedeuten immer eine große Umwälzung“; er drückte mir nochmals die Hand: „Nun stehen wir hübsch ein paar Tage später auf.“

„Du brauchst dich nicht zu ängstigen, Alixchen,“ damit wandte Mama sich mir wieder zu, als er fort war, und erklärte mir mit wenig Worten meinen Zustand. Ein Gefühl des Stolzes erfüllte mich: nun war ich also wirklich kein Kind mehr, – und meine Träume suchten die Zukunft: so kam denn endlich das Leben, das lockende, zauberreiche!

Während meiner Krankheit hatte ich mich so sehr gestreckt, daß kein Kleid mir mehr paßte. In den Wochen, die ich noch zwischen Bett und Sofa verlebte, trug ich meiner Mutter schleppende Schlafröcke, was mir sehr gefiel. Mein Bild im Spiegel, das mir so lange gleichgültig gewesen war, suchte ich wieder; und so blaß und so schlank ich auch war, es gefiel mir nicht übel: die großen dunkeln Augen, die schwarzen Locken über der weißen Stirn, die schmalen Hände mit den rosigen Fingerspitzen, – wer weiß, ob nicht doch noch etwas aus mir werden konnte!

Als wir mit unsern Koffern zum Bahnhof fuhren, von wo der Zug uns wieder gen Süden tragen sollte, hatte ich kein einziges verbotenes Buch mit durchzuschmuggeln versucht; mich verlangte es nicht, zu lesen, denn leben – leben und genießen – wollte ich!

Empfohlene Zitierweise:
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/108&oldid=- (Version vom 31.7.2018)