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seiner Tochter, als daß er nicht wenigstens den nächsten Freunden und Verwandten davon Mitteilung gemacht hätte. Die Aufklärung ließ nicht lange auf sich warten. Eine Kusine meines Vaters war mit der Verfasserin des Romans, den ich vorgab, geschrieben zu haben, befreundet und frug ihn brieflich nicht wenig erstaunt nach dem Zusammenhang dieser seltsamen Historie. Es kam zu einem furchtbaren Auftritt. Mein Vater kannte sich selbst nicht mehr. „Mein guter Name! Mein guter Name!“ stöhnte er immer wieder und lief wie wahnsinnig im Zimmer hin und her. „Ich muß mich erschießen! Ich überlebe die Schande nicht!“ “ schrie er dazwischen, während Mama still vor sich hin weinte. Stumm und regungslos stand ich mitten im Zimmer und rührte mich auch dann nicht, als Papa, mit funkelnden, rot unterlaufenen Augen vor mir stehen blieb und die hoch erhobene Faust klatschend auf meine Wange niedersausen ließ.

Stumpfsinnig vor mich hinbrütend, lag ich ein paar Tage im Bett. Niemand kümmerte sich um mich als die Anna, die mir auch mitleidig in die Kleider half, als Pfarrer Eberhards Besuch mir gemeldet wurde. Mit gefalteten Händen und tief bekümmerter Miene trat er ein. Daß sie keinem echten Gefühle Ausdruck gab, sah ich an den Lichtern leisen Triumphs, die in seinen Augen glänzten: Endlich war der Sieg sein – endlich! Er hielt mir eine wohlvorbereitete Rede, die ich mit keiner Silbe unterbrach. Das furchtbare Ereignis habe hoffentlich, so sagte er, meinen Hochmut gebrochen und mich belehrt, daß Gott seiner nicht spotten ließe. Noch sei es Zeit für mich, umzukehren

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/141&oldid=- (Version vom 31.7.2018)