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ich Götter- und Heldensagen verflocht. Sie glaubte an mich – felsenfest: wenn wir auf dem Haff segelten, warf sie heimlich mitgebrachten Kuchen ins Wasser, – für Neringa, die Hafffrau, die drunten hungert, – zwischen die Steine der Parkmauer schob sie Töpfchen mit Milch, – für die Wichtelmännchen, die dort ihr Wesen treiben.

Ließ sie mich frei, so vergrub ich mich in die Bibliothek. Unter dem Vorwand, die Bücher ordnen zu wollen, hatte ich mir dieses Asyl, das nur selten jemand betrat, gesichert. Es war dunkel und roch nach moderndem Papier; aber was kümmerte das mich, die ich tief im Ledersessel kauerte und über dem Lesen alles vergaß! Eine kuriose Sammlung enthielten die Schränke: alte landwirtschaftliche Broschüren und Zeitschriften, Reichstagsprotokolle der jüngsten Zeit, Modeblätter, die sich seit Jahrzehnten angesammelt hatten, französische Romane verfänglichster Art, – Zolas „Nana“ und „Assommoir“ mitten darunter, – deutsche moderne Familienromane, und schließlich in billigen, schlecht gebundenen Ausgaben die deutschen Klassiker. Mit der Hast einer Heißhungrigen verschlang ich alles: von den Memoiren der Cora Pearl bis zu Wieland und Herder. Ich muß aber wohl in jener Zeit weder für die Schlüpfrigkeit noch für den Realismus sehr empfänglich gewesen sein; was ich von dieser Art las, interessierte mich kaum, es rief höchstens ein Gefühl des Ekels in mir wach. Noch weniger fesselten mich die deutschen Romane. „Unsere Unterhaltungsliteratur ist flach, kraft- und saftlos,“ schrieb ich an meine Kusine, „sentimental und nüchtern, weil die Schriftsteller sich nach ihrem fast nur aus Frauen bestehenden Publikum

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 242. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/244&oldid=- (Version vom 31.7.2018)