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bis zur Stadt. Das Wasser, die feierlich breite Brücke darüber; ein öder, sandiger Platz trennte sie vom Palast des Herrschers. Demütig und zusammengeduckt, in nüchternem Werktagskleid, scheu und anbetend, aus kleinen Fenstern hinüberblinzelnd, lag sie zu seinen Füßen.

„Das ist Mecklenburg!“ sagte mein Vater.

Die ersten Wochen in Schwerin waren ausgefüllt mit offiziellen Besuchen und Gegenbesuchen, die für mich lauter Enttäuschungen waren. Die Menschen entsprachen der Stadt, ob es nun Hofmarschälle, Minister oder Kammerherrn und Leutnants waren. Das Resultat „guter“ Erziehung sprang in die Augen: vollkommene Gleichartigkeit des Wesens, der Ansichten, der Bildung; unerschütterlicher Gleichmut, selbstverständliche Kirchlichkeit – eine Vornehmheit, die, in ihrem Abscheu vor jeder Extravaganz, äußerlich und innerlich vollkommen farblos machte. Und die Frauen! Glatt gescheitelt, streng und kühl die Verheirateten; eine Schar alternder Mädchen – das Kennzeichen jeder kleinen Residenz – mit dem bitteren Zug enttäuschter Erwartungen um blutleere Lippen; wenige junge, und auch die sich zu vorschriftsmäßigem Gleichmaß zwingend. Der Hoftrauer wegen – im Frühjahr war der alte, sehr geliebte Großherzog gestorben, sein kränklicher Nachfolger war noch im Süden – gab es keine großen Gesellschaften, dagegen zahllose Nachmittagstees von gähnender Langerweile und steife Abendgesellschaften, die ihnen nichts nachgaben. Kleine Diners bei der alten Großherzogin-Mutter, der Schwester Kaiser Wilhelms, bildeten eine wohltätige Ausnahme. Die originelle alte Dame liebte die Jugend und war, bei allem strengen Urteil über Manieren, die ihr nicht

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 255. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/257&oldid=- (Version vom 31.7.2018)