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um der Langenweile Herr zu werden. Zum Kampf gegen sie zettelte ich unter meinen wenigen Altersgenossinnen eine förmliche Verschwörung an: wir „schnitten“ die Alten und Grämlichen, wir protestierten durch die Tat gegen die Gewohnheit der Trennung der Geschlechter, sobald das Essen vorüber war, wir spielten Theater und stellten lebende Bilder, wozu ich die verbindenden Texte zu dichten pflegte. Und unsere Jugend siegte allmählich; meine geselligen Künste fanden Anerkennung, und ich mußte sie überall glänzen lassen. Aber solche Erfolge genügten mir nicht. Ich „suchte Menschen“ – verlangender und sehnsüchtiger denn je –, und wenn ich mich scheinbar am besten amüsiert hatte, kam ich oft heim, um verzweifelt in mein Bett zu schluchzen.

„Du hast das beste Leben von der Welt. Warum bist du nicht zufrieden?“ schrieb mir meine Kusine, die kurze Zeit bei uns gewesen war und meine Zerfahrenheit nicht begriff.

Ich antwortete ihr:

„Du sagst, und zwar mit dem Ton moralischen Vorwurfs, daß ich nur darum die hiesige Gesellschaft so abfällig beurteile, weil ich noch niemanden fand, der mich persönlich interessiert. Das ist doch selbstverständlich! Oder gehst du der vielen Gleichgültigen wegen in Gesellschaft, die sich nach deinem Befinden erkundigen, obwohl es ihnen ganz einerlei ist, wie du dich befindest, die die kostbare Zeit mit Geschwätz totschlagen, von dem du absolut gar keine Anregung empfängst, die ein verbindliches Auf Wiedersehen‘ flöten und schon am nächsten Tag an deiner Leiche gleichgültig vorübergehen würden?! Aber du treibst deinen Vorwurf noch weiter und sagst entrüstet,

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 257. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/259&oldid=- (Version vom 31.7.2018)