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gewärmten Strümpfe und Schuhe selbst über die Füße zu ziehen.

War das eine Wonne, allein zu sein! Über mein Tun und Lassen selbständig zu entscheiden! Ein Schmetterling, der aus dem Puppenpanzer kriecht, konnte nicht froher sein als ich! Plötzlich – ich saß grade unter tropfenden Bäumen auf der nassen Bank, die der Sepp mir gezimmert hatte – fielen mir meine achtzehn Jahre ein; – Himmel, war ich jung! Ganz überwältigt von dieser Erkenntnis, lief ich in großen Sprüngen den Berg hinab und konnte mich vor Lachen nicht fassen, als ich der Länge nach im Moose lag.

Tante Klotilde verschob ihre Ankunft von einer Woche zur andern. Wenn sie den Schnupfen hatte und das Wetter schlecht war, zitterte sie um ihre Stimme, und vor der Rücksicht auf deren Gefährdung mußte alles andere zurückstehen. Sie schickte mir ermahnende Briefe, in denen sie genau vorschrieb, wie weit ich allein gehen dürfe – eine Viertelstunde im Umkreis wars höchstens –, und schärfte der Kathrin ein, gut auf mich aufzupassen.

Indessen kam der Frühling, und die Bäume steckten ihm zu Ehren ihre ersten grünen Blätterfähnchen aus. Ich saß schon stundenlang auf der Veranda in Tantens Schaukelstuhl – ohne Handarbeit, ohne Buch – und sonnte mich. Außer mir und der Kathrin waren nur der alte Gärtner und sein uralter Pudel im Haus, der im Stoizismus seines Greisentums das Bellen sogar schon aufgegeben hatte. Es war daher mäuschenstill bei uns. Um so mehr erstaunte ich, als eine kräftige Männerstimme eines Morgens an mein Ohr schlug.

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/269&oldid=- (Version vom 31.7.2018)