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mich die trockne Aufzählung dieser einzigen Möglichkeiten, die für mich Unmöglichkeiten waren. Mein Vater konnte niemanden weinen sehen, am wenigsten seine Töchter. Er sprang auf und zog mich in die Arme, mir mit einem leisen: „Armes Kind, armes Kind!“ die Wangen streichelnd. Es blieb dann eine Weile ganz still zwischen uns. Und dann sprach er mit derselben weichen Stimme auf mich ein, wie auf eine Kranke, – mit langen Pausen dazwischen, als wollte er mir zum Antworten Zeit lassen. „Sei still, mein Kind – bitte weine nicht mehr. – Wie ein Vorwurf ist das für mich – daß ich nicht besser für dich sorgte! Wärst du ein Mann, so hätte ich dich schon auf Wege geführt, die einen Lebensinhalt gewährleisten, aber so – – du bist nur ein Mädchen – nur für einen einzigen Beruf bestimmt, – alle anderen wären doch nichts als traurige Lückenbüßer. Du sollst diesem einzigen nicht so krampfhaft – oder leichtsinnig – aus dem Wege gehen! Ich bin ein alter Mann und werde nicht ruhig sterben können, wenn ich dich nicht im Hafen weiß!“

„Papa – lieber Papa!“ schluchzte ich auf; dann lief ich hinaus und schloß mein Schlafzimmer hinter mir zu und saß auf dem Bett stundenlang mit brennenden Augen und wundem Herzen. Nun hatte ich ein Buch nach dem anderen heißhungrig verschlungen, und dunkel und leer gähnte mein Inneres mich trotzdem an, – hatte Erkenntnisse gewonnen, die mich berauschten, und wenn ich zum nüchternen Tageslicht erwachte, war ich elender als zuvor. So ist das Glück geistigen Werdens und Wachsens denn auch nichts weiter als Betäubung? Ist wirklich das Schicksal des Weibes nur der Mann?

Empfohlene Zitierweise:
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 374. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/376&oldid=- (Version vom 31.7.2018)