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„Und wenn ich es getan hätte,“ sagte ich rasch und abwehrend, „ist es nicht eine der ersten Forderungen Ihres Christentums, den Unschuldigen beizustehen? –

Gebietet es nicht Ihre Religion, sich opfermütig zwischen die Kinder und ihre Mörder zu werfen?“

Mein Christentum?! Meine Religion?!“ Er sah mich groß an. „Sie haben sich falsch ausgedrückt, wie ich hoffe! Unser Glaube ist der gleiche – nicht wahr, Fräulein Alix?“

„Sie spielen ein männliches Gretchen, Herr von Syburg!“ fuhr ich auf, „mit welchem Recht behandeln Sie mich wie ihr Beichtkind?!“

„Mit dem Recht des Mannes, der das Jawort ihrer Eltern erhielt!“ Er griff nach meiner Hand, die ich ihm heftig entriß.

„So erfahren Sie denn, daß ich dies Recht nicht anerkenne! Niemand hat über mich zu verfügen – niemand – als ich, ich ganz allein. Und ich – ich werfe Ihnen ihr Jawort vor die Füße!“

Ich wandte ihm den Rücken, schritt ruhig durch die Lindenallee, über den Burghof, die Treppen hinauf in mein Zimmer – warf die Tür ins Schloß, riegelte zu – reckte die Arme weit aus: nun war ich frei!

Anna ließ ich vergebens klopfen – fragen – bitten. Ich wäre außerstande gewesen, irgend jemandem Rede und Antwort zu stehen. Ich mußte allein sein.

Noch stand ich mit einem Gefühl des Schreckens vor dem Abgrund, der zwischen mir und meiner Welt auseinanderklaffte. Unter den Speerwürfen blendenden Sonnenlichts war der Nebel zerrissen, den ich, mich selbst belügend, so lange für eine Brücke gehalten hatte. Ich

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 408. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/410&oldid=- (Version vom 31.7.2018)