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„Wer am Leiden zugrunde geht, ist des Lebens nicht wert gewesen.

„Wächst nicht selbst aus dem Hunger der Massen der Riese, der ihn überwinden wird? Schafft die Not nicht die Einigkeit und den Kampf, grünt nicht heimlich unter Blutlachen und Tränen die junge Saat der kommenden Menschen?

„Nur Eins ist not: daß wir in dem ungeheuern Triebrade der Entwicklung kein Staubkorn sind, das hindert, bis es zermalmt wird, kein Rostfleck, der den Mechanismus anfrißt, bis er verrieben ist. Wenn wir kein Teil der motorischen Kraft sein können, seien wir wenigstens ein Tröpflein Öls, ein winziges Zähnchen.

„Das ist die neue Wahrheit vom Leben.“


Mir war, als hätte ich mir ein Rüstzeug geschmiedet, das mich unüberwindlich machte. Glückselig sah ich jedem jungen Tage entgegen und wanderte mit frischen Kräften tief in den Wald, die Lenzluft einatmend, die starke, würzige, – den echten Jugendborn für Geist und Körper.

Es war hoher Sommer, als ich mich entschloß, meines Vaters Wunsch Folge zu leisten und zum Kaisermanöver nach Münster zurückkehren.

Am Tage meiner Ankunft prangte die Stadt schon in vollem Schmuck: Fahnen und Wimpel in bunter Farbenpracht flatterten im Winde, aus den Fenstern hingen Teppiche, über die Straßen zogen sich grüne Girlanden, mit roten und blauen Sommerblumen besteckt. Eine bunte Volksmenge füllte die Straßen. Alte Trachten tauchten auf:

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 420. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/422&oldid=- (Version vom 31.7.2018)