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Es ist psychologisch interessant, einmal zu sehen, wie die Dinge auf Menschen wirken, die, wie Sie, dem Leben so fern stehen.“

„Ich stehe ihm näher, viel näher, als Sie glauben –“ nun flossen mir die Worte rasch und klar von den Lippen – „und ich weiß, daß wir nicht weiter kommen – der Einzelne nicht und die Gesamtheit nicht –, solange wir uns scheuen, das Böse und Widerwärtige, das Häßliche und Schmerzhafte zu sehen, wie es ist. Erst daran erprobt sich die Lebenskraft. Kein größeres Zeichen der Dekadenz gibt es als die Furcht vor dem Schmerz. Sie ist unsere Krankheit, und an ihr geht unsere Welt zugrunde, wenn sie sich von den Ibsen und Zola und Nietzsche und denen, die ihresgleichen sind, nicht heilen läßt.“ Ich atmete tief auf. Jetzt erst sah ich wieder, wer um mich war: man lächelte, halb verlegen, halb mitleidig, man zuckte die Achseln.

„Wenn nichts anderes, so haben Sie doch eins bewiesen, meine Gnädigste,“ spöttelte Dr. Friedrich, „Sie haben Ihren Beruf verfehlt: eine Rednerin ist an Ihnen verloren gegangen.“

Ich fühlte mich gedrückt und verlegen und mochte den Mund nicht mehr auftun.

Auf dem Nachhausewege schloß sich mir plötzlich Juliane Déry an und schob ihren Arm in den meinen.

„Sie sind eine tapfere kleine Person,“ sagte sie, „aber furchtbar dumm sind Sie auch! – Das vergißt Ihnen der Friedrich nie!“

„Wenn meine ganze Dummheit darin besteht, – die Folgen will ich auf mich nehmen.“

„Na – allerhand Achtung vor Ihrer Kurage! –

Empfohlene Zitierweise:
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 473. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/475&oldid=- (Version vom 31.7.2018)