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Und nun saß ich in Großmamas stillem, grünem Zimmer unter dem weißen Marmorbild ihres Vaters, und aus dem Garten grüßten die Jasminsträucher mit großen, süß duftenden Blüten. Niemand störte mich in dieser Einsamkeit. Onkel Walter fürchtete die Räume der Toten, als ginge ihr Geist darin um. Mama glaubte mich bei der Arbeit, der Vater ritt mit dem Schwesterchen durch die Wälder, wie einst mit mir. Ich hatte arbeiten wollen. Bücher und Notizen lagen in großen Stößen auf dem Tisch der Altane. Aber sobald ich sie aufschlug, schrumpften mir alle Gedanken ein. Tot und leer waren all die vielen Papiere, – wie sollte je etwas Lebendiges aus ihnen hervorgehen. Und was gingen mich im Grunde die fremden Dinge und Menschen an? Was würde die Welt davon haben, wenn ich des langen und breiten von denen erzählte, die im Dunkel geblieben wären, wenn nicht ein ganz Großer sie in seine Nähe gezogen hätte?

In Großmamas Bücherschrank standen Goethes Werke in langer Reihe mit grünen Einbänden und weißen runden Schildern auf dem Rücken. Ich begann zu lesen – stundenlang, tagelang, wochenlang –. Und je mehr ich las, desto mehr zog ich mich in die Räume zurück, die eine stille Insel waren mitten im Weltgetriebe. Täglich schmückte ich sie mit frischen Blumen, wie Großmama es getan hatte, und zog des Nachts die dunkeln Sammetportieren vor Türen und Fenster und steckte die Ampel an mit der großen Flamme unter dem sonnengoldnen Seidenschirm. Wenn ich dann halb die Augen

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 493. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/495&oldid=- (Version vom 31.7.2018)