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und nahm ihm die Kaffeekanne ab. Wie alte Freunde saßen wir beieinander.

Und dann las ich ihm „Wider die Lüge“ vor.

„Daß Sie mir nichts Gewöhnliches bringen würden, wußte ich,“ bemerkte er langsam nach einer kurzen Pause, die mich schon ganz ängstlich gemacht hatte. „Von keinem meiner Studenten dürfte ich so viel Geist und Kraft und Selbständigkeit erwarten … Ich habe lange über Sie nachgedacht, aber das Resultat dieses Nachdenkens hätte ich noch für mich behalten, wenn Sie mir nicht diesen Einblick in Ihr Geistesleben gewährt haben würden. Nun möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen, dessen selbstsüchtige Beweggründe mein Gewissen freilich arg belasten: Sie haben keinen Bruder, ich keine Schwester, – lassen Sie mich Ihren Bruder sein, und gestatten Sie mir dann als solchem, mich Ihrer anzunehmen. All die guten Freunde drüben –“ er zeigte auf den Bücherschrank – „will ich Ihnen vorstellen; Sie werden rasch nachholen, was Ihnen an philosophischen Kenntnissen fehlt, – und dann – –,“ er stockte.

„Dann?!“ frug ich gespannt.

„Dann werden Sie tun, was mir versagt ist: unsere Ideen unter die Massen tragen.“

„Werde ich es können – – dürfen?! Meine Eltern sind schon jetzt …“

Er unterbrach mich. Ein harter Zug grub sich um seine Mundwinkel. „Wer den Pflug anfaßt und stehet zurück, der ist unserer Sache nicht wert …“

„So lehren Sie mich Ihre Sache kennen, – ich glaube freilich schon von vorn herein, daß es auch die meine sein wird!“

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 512. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/514&oldid=- (Version vom 31.7.2018)