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Achtzehntes Kapitel
Kranz, 15. 6. 92 

 Verehrter Herr Professor!

Wir sind wohlbehalten hier angekommen und ich benutze den herrlichen Morgen, um Ihnen gleich die erste Nachricht zu geben. Seit gestern Abend, wo Onkel Walter, kaum daß ich den Reisestaub abgeschüttelt hatte, mich bereits ganz gegen seine Gewohnheit in ein politisches Gespräch verwickelte, zweifle ich nicht mehr daran, daß nicht meiner Schwester Bleichsucht, sondern mein ‚gefährlicher‘ Geisteszustand die Eltern veranlaßte, uns Beide so unerwartet rasch auf Reisen zu schicken. Der Onkel erzählte mir, daß die Regierung, d. h. heute kaum etwas anderes als S. M., Egidy, diesem ‚kompletten Narren‘, nur aus Rücksicht auf seine Familienbeziehungen noch ‚keinen Maulkorb‘ vorgebunden habe, man werde dafür bei Zeiten seinen Parteigängern an den Kragen gehen, die im Polizeipräsidium als Anarchisten wohl bekannt seien. ‚Aber Dein Professor ist viel gefährlicher‘, fügte er dann hinzu, ‚und er wäre längst beseitigt worden, wenn er nicht ein kranker Mann wäre.‘ Da mir die schlechte Gewohnheit des Schweigens inzwischen glücklich abhanden gekommen ist, gab es eine

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 541. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/543&oldid=- (Version vom 31.7.2018)