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und teilen mir zeitlich mit, wann ich Sie erwarten darf?

Mit herzlichsten Grüßen

Ihr treuergebenster 
Georg von Glyzcinski.“ 

Ich vermochte den Brief kaum zu Ende zu lesen, nichts als leere Worte tanzten mir vor den Augen; denn nur ein Satz hatte sich mir schreckhaft eingeprägt: „ich bin nicht auf dem Posten – muß ausgestreckt liegen.“ Und ich sah ihn deutlich vor mir, den kranken Mann mit dem Apostelkopf und dem wesenlosen Körper, wie er allein, von einem ungeschickten Diener kaum bedient, geschweige denn gepflegt, in seinem stillen Zimmer lag, die weißen schmalen Hände auf der schwarzen Pelzdecke, die Kinderaugen sehnsüchtig ins Weite gerichtet. Mein Herz klopfte zum Zerspringen, und ich wußte auf einmal, wohin ich gehörte.

Mechanisch faltete ich einen zweiten Brief auseinander: von Lisbeth; – noch heute sollte ich zu ihr kommen, Sindermann habe sich zum Abend angesagt, schrieb sie. Ich ging in mein Zimmer, raffte das Notwendigste eilig zusammen und hinterließ meiner Mutter, die mit allen anderen auf ein Nachbargut gefahren war, zwei Zeilen: „Frau Professor Landmann lädt mich soeben ein, noch heute nach Königsberg zu kommen. Da ich Eurer Erlaubnis sicher zu sein glaube, fahre ich mit dem nächsten Zug.“

Unterwegs erst wurde ich Herr einer Erregung, die mich den fernen Freund schon mit geschlossenen Augen und erblaßten Lippen auf dem Totenbette sehen ließ. Ich hatte beschlossen, den Nachtzug nach Berlin zu benutzen,

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 554. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/556&oldid=- (Version vom 31.7.2018)