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Der Alte streichelte mit der runzligen Hand die Wange der Tochter. „Sehen Sie, und damit hat mir die Kleine das Leben gerettet! Wir waren auf einmal nicht mehr allein, und der Mühe wert wars auch für uns arme Leute, zu leben! Hier in diesem Zimmer sind wir während des Sozialistengesetzes oft genug mit den Genossen zusammen gekommen, und draußen in der Fabrik, wo ich arbeitete – der Meisterhochmut war mir glücklich vergangen! –, und in der Werkstatt, wohin die Martha ging, haben wir ganz im stillen immer neue Freunde geworben.“

Die Tochter lachte: „Jetzt gehts dem Vater eigentlich viel zu friedlich zu! Sie hätten ihn sehen sollen, wie er mit seinem ehrlichen Gesicht den Spitzeln eine Nase drehte und unsere Zeitungen überall einzuschmuggeln verstand! – Na, lange dauerts nicht mehr, und er wird sich seiner alten Künste erinnern müssen!“

Und dann erfuhr ich von ihrer jetzigen Tätigkeit: wie sie für ihre Gewerkschaft auf Agitationsreisen ging, wie sie in täglicher Kleinarbeit für die Partei die Kollegen und Kolleginnen zu gewinnen suchte, wie sie im Arbeiterinnenverein die Proletarierfrauen durch Vorlesen aus Büchern und Zeitschriften zu geistigen Interessen erzog.

„Wo aber nehmen Sie bloß die Zeit und die Kenntnisse her?“ frug ich mit steigendem Erstaunen. „Sie müssen doch wohl verdienen, wie ich sehe!“

„Gewiß muß sie das und für Zwei sogar!“ antwortete der Vater, „mich will sie durchaus nicht mehr in die Fabrik gehen lassen.“

„Er ist mir zu nötig!“ unterbrach sie ihn. „Er liest

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 601. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/603&oldid=- (Version vom 31.7.2018)