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Meinen neuen Vortrag schrieb ich wie im Fluge, kaum daß die Feder den einstürmenden Gedanken zu folgen vermochte. Und die Stimme zitterte mir vor Erregung, als ich ihn das erste Mal vorlas. Meine gestrengen Zuhörerinnen aber blieben merkwürdig kühl. Nur Frau Vanselow nahm meine beiden Hände mit einem verständnisinnigen Druck zwischen die ihren.

„Ich habe mir die Punkte notiert, die Sie ändern, respektive fortlassen müssen,“ sagte das rundliche Fräulein Doktor und rückte die Brille fester auf ihr viel zu kurz geratenes Näschen. „Zunächst dürfen Sie nicht sagen, daß die Existenz von Wohltätigkeitsvereinen ein Armutszeugnis für den Staat sei und die Gebenden sich ihrer Wohltätigkeitsakte ebenso schämen müßten, wie die Empfangenden. Sie schlagen damit die Besten vor den Kopf –.“

Ich verteidigte meine Anschauung, aber die Abstimmung entschied gegen mich.

„Auch Ihre Elendsschilderungen sind viel zu übertrieben und wirken in höchstem Maße aufreizend,“ meinte die Hagere.

„So sollen sie wirken!“ entgegnete ich, „und überdies stammen all meine Angaben aus amtlichen Quellen.“ Nach einer kurzen, scharfen Auseinandersetzung gab meine Kritikerin seufzend nach.

„Unbedingt notwendig aber ist es, daß Sie den Satz über die Sozialdemokratie streichen,“ erklärte eine andere Vorstandsdame, deren verwandtschaftliche Beziehung zu

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 619. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/621&oldid=- (Version vom 31.7.2018)