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Beobachtung durch die Ausdrücke „sich austoben, ausweinen“ u. dgl. Wird die Reaction unterdrückt, so bleibt der Affect mit der Erinnerung verbunden. Eine Beleidigung, die vergolten ist, wenn auch nur durch Worte, wird anders errinnert als eine, die hingenommen werden musste. Die Sprache anerkennt auch diesen Unterschied in den psychischen und körperlichen Folgen und bezeichnet höchst charakteristischerweise eben das schweigend erduldete Leiden als „Kränkung“. – Die Reaction des Geschädigten auf das Trauma hat eigentlich nur dann eine völlig „kathartische“ Wirkung, wenn sie eine adäquate Reaction ist, wie die Rache. Aber in der Sprache findet der Mensch ein Surrogat für die That, mit dessen Hilfe der Affect nahezu ebenso „abreagirt“ werden kann. In anderen Fällen ist das Reden eben selbst der adäquate Reflex, als Klage und als Aussprache für die Pein eines Geheimnisses (Beichte!). Wenn solche Reaction durch That, Worte, in leichtesten Fällen durch Weinen nicht erfolgt, so behält die Erinnerung an den Vorfall zunächst die affective Betonung.

Das „Abreagiren“ ist indess nicht die einzige Art der Erledigung, welche dem normalen psychischen Mechanismus des Gesunden zur Verfügung steht, wenn er ein psychisches Trauma erfahren hat. Die Erinnerung daran tritt, auch wenn sie nicht abreagirt wurde, in den grossen Complex der Association ein, sie rangirt dann neben anderen, vielleicht ihr widersprechenden Erlebnissen, erleidet eine Correctur durch andere Vorstellungen. Nach einem Unfall z. B. gesellt sich zu der Erinnerung an die Gefahr und zu der (abgeschwächten) Wiederholung des Schreckens die Erinnerung des weiteren Verlaufes, der Rettung, das Bewusstsein der jetzigen Sicherheit. Die Erinnerung an eine Kränkung wird corrigirt durch Richtigstellung der Thatsachen, durch Erwägungen der eigenen Würde u. dgl., und so gelingt es dem normalen Menschen, durch Leistungen der Association den begleitenden Affect zum Verschwinden zu bringen.

Dazu tritt dann jenes allgemeine Verwischen der Eindrücke, jenes Abblassen der Erinnerungen, welches wir „vergessen“ nennen und das vor allem die affectiv nicht mehr wirksamen Vorstellungen usurirt.

Aus unseren Beobachtungen geht nun hervor, dass jene Erinnerungen, welche zu Veranlassungen hysterischer Phänomene geworden sind, sich in wunderbarer Frische und mit ihrer vollen Affectbetonung durch lange Zeit erhalten haben. Wir müssen aber als eine weitere auffällige und späterhin verwerthbare Thatsache erwähnen, dass die Kranken nicht etwa über diese Erinnerungen wie über andere ihres

Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Leipzig und Wien: Franz Deuticke, 1895, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_006.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)