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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

natürlicher Behandlung der Sprache entwickelt, so daß sich nicht zweifeln läßt, er werde auch für die Alten etwas Rechtes leisten. … Es ist alles beobachtet, was Kinderaufmerksamkeit spannen und befriedigen kann. Ebenso lobenswert finden wir es, daß nicht zu viel und auf schwächliche Weise an das Gefühl der Kinder appelliert wird. … Was den Stil betrifft, so ist der Verfasser bei Goethe und Tieck in die Schule gegangen.“

Dieser erste Märchenalmanach wurde auch nach Hauffs Tode wieder von neuem in den Kreis der Besprechungen seiner Werke gezogen. „Die Freunde des Verstorbenen“, wie der Nekrolog im „Berliner Konversationsblatt“ Nr. 247 vom 14. Dezember 1827 unterzeichnet ist, sagen: „Dieses Werk überraschte durch einen fließenden Stil, der bei dem Jüngling als unmittelbare Naturgabe erschien, und durch eine Bestimmtheit und Objektivität mannigfaltiger Gestalten, die in einem jugendlichen Geiste nicht weniger selten ist. Der Beifall, der diesem anspruchslosen Produkte in kleinerem Kreise wurde, machte ihm Mut, seinen Humor, der schon seit früher Jugend sprühte, in einer andern Sphäre lodern zu lassen.“

Ermutigt durch die Anerkennung der Kritik ließ Hauff im nächsten Jahre einen zweiten Almanach folgen, diesmal nicht nur Kinder seiner Muse enthaltend, dessen Inhaltsverzeichnis folgende, in die allgemeine Rahmenerzählung verflochtene Märchen aufführt: 1) Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven (als Rahmenerzählung). – 2) Der Zwerg Nase. – 3) Abner, der Jude, der nichts gesehen hat. – 4) Der arme Stephan, von A. Schöll[1]. – 5) Der gebackene Kopf, von J. Morier[2]. – 6) Der Affe als Mensch. – 7) Das Fest der Unterirdischen und Schneeweißchen und Rosenrot, von W. Grimm. – 8) Die Geschichte Almansors.

Den Erfolg des dritten Jahrganges, „Märchenalmanach für das Jahr 1828“, hat der Dichter nicht mehr erlebt. Der Inhalt zeigt außer einer Übertragung aus dem Englischen, der „Höhle von Steenfoll“ aus den „Tales of a Voyager“, nur eigene Werke Hauffs oder doch eigenartige Erzählungen württembergischer Sagen. Das Inhaltsverzeichnis lautet: 1) Das Wirtshaus im Spessart (als Rahmenerzählung). – 2) Die Sage vom Hirschgulden. – 3) Das kalte Herz, 1. Abteilung. – 4) Saids Schicksale. – 5) Die Höhle von Steenfoll. – 6) Das kalte Herz, 2. Abteilung.



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Märchen als Almanach.

In einem schönen fernen Reiche, von welchem die Sage lebt, daß die Sonne in seinen ewig grünen Gärten niemals untergehe, herrschte von Anfang an bis heute, die Königin Phantasie. Mit vollen Händen spendete diese seit vielen Jahrhunderten die Fülle des Segens über die Ihrigen und war geliebt, verehrt von allen, die sie kannten. Das Herz der Königin war aber zu groß, als daß sie mit ihren Wohlthaten bei ihrem Lande stehen geblieben wäre; sie selbst, im königlichen Schmuck ihrer ewigen Jugend und Schönheit stieg herab auf die Erde; denn sie hatte gehört, daß dort Menschen wohnen, die ihr Leben in traurigem Ernst unter Mühe und Arbeit hinbringen. Diesen hatte sie die schönsten Gaben aus ihrem Reiche mitgebracht, und seit die schöne Königin durch die Fluren der Erde gegangen war, waren die Menschen fröhlich bei der Arbeit, heiter in ihrem Ernst.

Auch ihre Kinder, nicht minder schön und lieblich als die königliche Mutter, sandte sie aus, um die Menschen zu beglücken. Einst kam Märchen, die älteste Tochter der Königin, von der Erde zurück. Die Mutter bemerkte, daß Märchen traurig sei, ja, hie und da wollte es ihr bedünken, als ob sie verweinte Augen hätte.

„Was hast du, liebes Märchen“, sprach die Königin zu ihr; „du bist seit deiner Reise so traurig und niedergeschlagen, willst du deiner Mutter nicht anvertrauen, was dir fehlt?“

„Ach! liebe Mutter“, antwortete Märchen, „ich hätte gewiß nicht solange geschwiegen, wenn ich nicht wüßte, daß mein Kummer auch der deinige ist.“


  1. Gustav Adolf Schöll (1805–82), Archäolog und Kunstschriftsteller.
  2. James Morier (1780–1849), engl. Romanschriftsteller, besonders durch seine persischen Romane, wie „Hadschi Baba“, „Zohrab“, „Aijescha“ u. s. w., bekannt.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 62–63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_2_033.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)