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eine rechtliche Befugnis unter gesetzlich genau festgesetzten Bedingungen gewährt, und daß sie nicht nur ein Mittel darstellt, wirtschaftlichen Nöten abzuhelfen, sondern die Einzelnen an den Aufgaben des Staates, ja an seinem Bestehen unmittelbar zu interessieren. Je größer die Zahl der der sozialen Versicherung unterworfenen Personen ist, desto mehr sind diese mit ihren allerelementarsten Lebensbedingungen an den Staat gebunden; ihre Interessen sind mit ihm in der fühlbarsten Weise verflochten. Es ist einer ganz einfachen, die Zusammenhänge des wirtschaftlichen und staatlichen Lebens erkennenden Auffassung ganz offensichtlich, daß nur ein mächtiger und geordneter Staat die wirtschaftliche Existenz, den Frieden täglicher Berufsarbeit sichern kann. Aber die politisch vielfach verhetzten Massen haben für diese Selbstverständlichkeit leider oft genug keinen Blick. Anders aber, wenn sie in Krankheit geraten, unter dem Einfluß eines Unfalls stehen oder invalide werden. Hier zeigt es sich dann auf das allerklarste, daß ohne die mächtig schützende Organisation des Staates kein Heil zu erwarten, keine irgendwie geartete Fürsorge – von privater abgesehen – zu erwarten ist, zumal die Unterstützung durch Berufsorganisationen, insbesondere die Gewerkschaften, lediglich für die im engeren Sinne organisierten Arbeiter und auch für diese nur in unzureichender Weise in Frage kommt.

Entwicklung der Versicherungsgesetzgebung.

Dem bedeutsamen Anfang der Sozialversicherung in den Jahren 1883–1889, in denen das Krankenversicherungsgesetz, die Unfallversicherungsgesetze, das Alters- und Invaliditätsgesetz geschaffen worden sind, folgte schon früh eine Reihe von Novellen, die eine Ausdehnung der Wohltaten und eine Anpassung an neue Verhältnisse zum Zwecke hatten. Ein Erlaß Kaiser Wilhelms II. vom 4. Februar 1890 verlangte ausdrücklich den weiteren Ausbau der Arbeiterversicherungs-Gesetzgebung und bot den Anlaß zu den Novellen des Krankenversicherungsrechts der Jahre 1892, 1900 und 1903. Der Kreis der Versicherten wird erheblich erweitert, die Leistungen werden bedeutend erhöht. Im Jahre 1900 wird das Unfallversicherungsrecht durch fünf Gesetze neu geregelt, und im Jahre 1899 tritt das Invalidenversicherungsgesetz an die Stelle des Alters- und Invaliditätsgesetzes vom Jahre 1889. Eine unendlich reichhaltige Judikatur, eine vielverzweigte, zu zahlreichen Streitfragen führende Verwaltung, der es nicht immer leicht geworden ist, auf Grund des bestehenden Rechts allen Notwendigkeiten gerecht zu werden, hat sich im Laufe der Zeit angehäuft. Immer mehr Kreise drängten sich zur staatlichen Versicherung, wollten, trotz aller mehr oder minder berechtigten Kritik, teilhaben an dem, was das Reich durch seine Gesetze und seine Verwaltung zu bieten in der Lage war.

Reformbewegung. Auf Vereinheitlichung gerichtete Bestrebungen.

Es entstand eine sehr tiefgehende Reformbewegung, die zunächst auf eine Vereinheitlichung aller Zweige der Versicherung gerichtet war. Wiewohl nun gewisse Verwandtschaften zwischen den Anlässen des Versicherungsbedarfs nicht geleugnet werden können, da die mit oder ohne Unfall entstandene Krankheit für den tätigen Arbeiter von annähernd gleicher Wirkung sein

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/225&oldid=- (Version vom 31.7.2018)