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Kassen, ganz in die Macht der Ärztegewerkschaft zu gelangen, die Bedingungen diktiert zu erhalten und die starke Steigerung der Ärztehonorare zuungunsten der Kassenfinanzen mit in Kauf nehmen zu müssen. Sie sind im großen ganzen mehr für das Kassenarztsystem, bestreiten auch eine standesunwürdige Abhängigkeit der Ärzte und die Statistiken weisen zum Teil hohe Jahreseinnahmen der Ärzte nach.

Die Reichsversicherungsordnung hat weder das System der freien Arztwahl noch das Kassenarztsystem zu dem alleinherrschenden erhoben. Sie läßt den Kassen vielmehr freie Wahl. Freilich ist diese nur in beschränktem Maße vorhanden, weil in dem Kampfe mit der Ärzteorganisation mit gegebenen Bedingungen allgemeiner und lokaler Art gerechnet werden muß. Ein Urteil zugunsten des einen oder anderen Systems als eines ausschließlichen abzugeben, liegt kein Anlaß vor. Je nach den besonderen örtlichen, finanziellen Verhältnissen wird der Abschluß von Kassenarztverträgen oder die Einführung der beschränkt freien Arztwahl angebracht erscheinen. Auf jeden Fall ist es erforderlich, daß die Aufsichtsbehörden eine standesunwürdige Behandlung der Ärzte, sei es in persönlicher, sei es in wirtschaftlicher Beziehung, zu verhindern suchen; an den gesetzlichen Mitteln hierzu wird es nicht fehlen. Im ganzen ist der Streit tief bedauerlich, wird aber, freilich nicht nach einheitlichen Gesichtspunkten, mit der Zeit in positivem Sinne gelöst werden müssen, wenn die Arbeiterversicherung überhaupt funktionieren soll. Immerhin ist schon in dem jetzigen Rechte der Begriff der ärztlichen Behandlung festgelegt und dafür nach Möglichkeit Vorsorge getroffen, daß weder auf seiten der Kasse die ärztliche Versorgung vernachlässigt, noch auf seiten der Ärzte durch grundsätzliche Verweigerung ihrer Tätigkeit die sozialpolitische Arbeit verhindert werde. Wenn nämlich bei einer Krankenkasse die ärztliche Versorgung dadurch ernstlich gefährdet wird, daß diese Kasse keinen Vertrag zu angemessenen Bedingungen mit einer ausreichenden Zahl von Ärzten schließen kann, oder daß die Ärzte den Vertrag nicht einhalten, so ermächtigt das Oberversicherungsamt die Kasse, auf ihren Antrag widerruflich statt der Krankenpflege oder sonst erforderlichen ärztlichen Behandlung eine bare Leistung bis zu zwei Dritteln des Durchschnittsbetrages ihres gesetzlichen Krankengeldes zu gewähren. Das Oberversicherungsamt kann zugleich bestimmen, wie der Zustand dessen, der die Leistungen erhalten soll, anders als durch ärztliche Bescheinigungen nachgewiesen werden darf; daß die Kasse ihre Leistungen so lange einstellen oder zurückbehalten darf, bis ein ausreichender Nachweis erbracht ist; daß die Leistungspflicht der Kasse erlischt, wenn binnen einem Jahre nach Fälligkeit des Anspruchs kein ausreichender Nachweis erbracht ist. Genügt andererseits bei einer Krankenkasse die ärztliche Behandlung oder Krankenhauspflege nicht den berechtigten Anforderungen der Erkrankten, so kann das Oberversicherungsamt nach Anhörung der Kasse jederzeit anordnen, daß diese Leistungen noch durch andere Ärzte oder Krankenhäuser zu gewähren sind. Diese Anordnung soll nur auf so lange getroffen werden, wie es ihr Zweck erfordert und bedarf, wenn sie über ein Jahr gelten soll, der Genehmigung der Ministerialinstanz. Wird die Anordnung nicht in der gesetzlichen Frist befolgt, so kann das Oberversicherungsamt selbst das Erforderliche auf Kosten der Kasse veranlassen. Einer der vielen Beschwerdepunkte der Ärzte war, daß bei dem Kassenarztsystem eine Begrenzung der Versicherten in der Auswahl

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/231&oldid=- (Version vom 31.7.2018)