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der Ortskrankenkasse zu schaffen, ist nicht geglückt. Man wird dies auch nicht allzusehr bedauern dürfen. Denn die verschiedenen Kassenformen entsprechen inneren Bedürfnissen, sie haben geschichtliche Ursachen; auch die historische Kontinuität zu wahren, erschien als eine nicht geringe Aufgabe. Überdies waren die besonderen gewerblichen, industriellen, handwerksmäßigen Produktionsformen auf eine ihrer Eigenart entsprechende Kassenform angewiesen. Dies ist am klarsten zu ersehen bei den Betriebskrankenkassen.

Die Betriebskrankenkassen, ihre Vor- und Nachteile.

Die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland am meisten charakteristische Form des Fabrikbetriebs verlangte auch hinsichtlich der sozialpolitischen Fürsorge eine ihr gemäße Gestaltung. Wenn in einem geschlossenen Betriebe Arbeiter zu einer Tätigkeit zusammengefaßt werden, bei der das Ganze und die Teile in einem Verhältnis des Aufeinanderangewiesenseins stehen, so wich diese Erscheinung sehr wesentlich ab von allen anderen gewerblichen Tätigkeiten, die der örtlichen und sachlichen Geschlossenheit entbehren. Die in einer Fabrik tätigen Personen stehen in einem engeren Zusammenhang miteinander als die freien Arbeiter außerhalb eines solchen Betriebs; sie können sich gegenseitig besser überwachen, die Simulation verhüten oder auf ein Mindestmaß einschränken. Die Krankheitsgefahr ist mehr oder minder eine gleichmäßige, so daß hier die zu machenden Aufwendungen der Arbeitgeber oder Arbeitnehmer von vornherein auf einer bestimmten, sachlich vorausgesetzten Höhe stehen, ohne die Schwankungen, die notwendig sind in einer Kasse, in der Personen mit allerverschiedenster Krankheitsgefahr aufgenommen werden. Die großen Vorteile der Betriebskrankenkassen zeigten sich schon vor dem Krankenversicherungsgesetz, speziell in Elsaß-Lothringen, und auch später: außerordentlich hohe Leistungen, verhältnismäßig geringe Beiträge. Die Schattenseiten der Betriebskrankenkassen sind allerdings in keiner Weise zu verdecken. Dem Arbeitgeber, der freilich ein großes finanzielles Risiko trägt, ist in der Verwaltung der Kasse ein großer Einfluß eingeräumt. Klagen über die Beschränkung der Selbstverwaltung durch die Arbeiter kommen immerhin vor. Solche Versicherten, die sich etwa dem Vorstande mißliebig machen, sind stets der Gefahr ausgesetzt, von dem Fabrikherrn entlassen zu werden, wenn auch unter Wahrung der rechtlichen Formen. Jedoch ist zu bedenken, daß die sozialpolitisch rückständige Auffassung, der Fabrikherr wolle auch in bezug auf die Versicherung „Herr im eigenen Hause“ bleiben, sich heute nur noch ganz vereinzelt findet. Die meisten Arbeitgeber wissen genau, welchen Gefahren sie sich bei der Beschränkung der Selbstverwaltung aussetzen, daß insbesondere die hinter den organisierten Arbeitern stehenden Gewerkschaften in der Lage sind, in solchen Fällen recht unangenehme Folgen herbeizuführen. Sodann wird gegen die Betriebskrankenkassen eingewendet, daß sie nur kräftige und gesunde Arbeiter einstellen, die älteren, etwa über 40 Jahre alten, die kranken und hinfälligen abzustoßen pflegen, indem der Arbeitgeber ihnen in dieser seiner Eigenschaft kündigt. Gewiß kommen auch mancherlei Unzuträglichkeiten vor, doch muß beachtet werden, daß der Fabrikbetrieb in den allermeisten Fällen große Ansprüche an die Gesundheit und unversehrte Kraft der in Frage kommenden Angestellten stellt, und daß es deshalb gar nicht möglich wäre, mit einem anderen als jüngeren und kräftigeren Arbeitermaterial auszukommen. Es mögen dies sachliche Notwendigkeiten sein, die mitunter auch etwas

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 228. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/244&oldid=- (Version vom 11.12.2022)