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unter die vorgestellten höheren Wesen, und so konnten auch die Priester jeweils nur auf dem Gebiet Autorität geltend machen, auf dem ihre Götter anbetungswürdig schienen. Erst das Judentum zentralisierte den Gottgedanken, erst die jüdisch-christliche Religion stellte eine Allmacht über der Menschheit auf, schuf den Begriff der Gottesknechtschaft, unterwarf Denken, Fühlen und Handeln den unantastbaren Satzungen einer jeder Absetzbarkeit, ja, jeder Anzweiflung entzogenen einheitlichen Autorität. Die Priester des allmächtigen, allwissenden, allgegenwärtigen Gottes erlangten dadurch die schrankenlose Macht über die Seelen der Gläubigen, eine Macht, der sie durch die Errichtung der Kirche den Halt der vollkommensten Zentralisation gaben.

Daß der Anarchismus mit dem Glauben an eine außerhalb der Persönlichkeit wirkende bewußte und willensbegabte Kraft unvereinbar ist, bedarf keiner besonderen Darlegung. Der Begriff der Religion könnte nur insofern mit anarchistischer Denkweise in Uebereinstimmung gebracht werden, wie er als Hingebung und Versunkenheit des Ich in seiner Beziehung zu Menschheit und Weltall gemeint wäre. Wo aber, wie es hier und da geschieht, von christlichem Anarchismus geredet wird, liegt immer der Verdacht nahe, es solle damit zwar die Ablehnung des Staates und der irdischen Obrigkeit zum Ausdruck kommen, hingegen der sich selbst mißtrauenden Seele die Zuflucht zu einer jenseitigen Schöpfer- und Bewacherautorität offengehalten werden. Jede wirkliche oder vorgestellte Autorität ist aber Preisgabe der Selbstverantwortlichkeit an eine über der Persönlichkeit wirkende Macht mit der Bedeutung von Aufsicht, Befehlsgewalt und Gerichtsbarkeit.

Es ist nur folgerichtig, daß die staatliche Autorität sich als moralischer Machtstütze stets und überall der kirchlichen Gebotsformen bedient; ebenso, daß die Kirche nach bester Möglichkeit die staatlichen Machtmittel zum Schutze der göttlichen Autorität in Anspruch nimmt. Die der Staatsmacht in jahrhundertelangen Kämpfen von den sich gegen jeden Gewissenszwang immer wieder aufbäumenden Völkern abgetrotzte formale Anerkennung der Glaubensfreiheit ist den Gesetzgebern fast nirgends ein Hindernis, den jüdisch-christlichen Eingott als tatsächlich vorhanden anzunehmen und unter besonderen Schutz zu stellen. Der Kampf gegen die kirchlichen Lehren von freiheitlichen Gesichtspunkten aus ist auch in Ländern, die in Technik und Wissenschaften weit vorgeschritten sind, größeren Erschwerungen unterworfen als sogar der Kampf gegen den Staat und seine Gesetze und Einrichtungen. Angriffe mit den wirksamen Mitteln des Spottes und der zornigen Grobheit werden von Gott und seinen irdischen Stellvertretern unter Einsatz schwerster staatlicher Straf- und Unterdrückungsmittel abgewehrt. Denn die Religion liefert dem Staate dank ihrer Berufung zur Seelsorge, welche alles irdische Glück aus willigem Glauben, aus Befolgen bestimmter Vorschriften für alles Fühlen und Verhalten und aus der Vorbereitung eines ewigen bewußten Lebens nach dem Tode herleitet, die sittliche Grundlage, die ihm gestattet, auf den Gehorsam gegen seine Regierung zu rechnen. So ist es auch kein Widerspruch, daß der Staat seine Gesetze keineswegs durchweg, wie es die Nurmaterialisten meinen beweisen zu können, nach den unmittelbaren Bedürfnissen der Kapitalisten herrichtet. Von der Aufrechterhaltung der Strafen, welche zum Beispiel das geschlechtliche Verhalten außerhalb der Ehe bedrohen, die bestimmte Veranlagungen verfemen oder die Leibesfrucht der eigenen Entschließung der Frauen entziehen, hängen die Ausbeutungsrechte der Grund-, Haus- und Maschineneigentümer schwerlich ab. In diesen und ähnlichen Fällen dient das Staatsgesetz einfach der Unterstützung der Kirche, in ihrer Aufgabe, den Wandel der Menschen in den privatesten Angelegenheiten zu überwachen und eine Verselbständigung der Persönlichkeit gegenüber den göttlichen Regeln zu verhindern.

Indem der Staat die Macht der Kirche dadurch befestigt, daß er das, was sie Sünde nennt, mit seinen Zwangsvorrichtungen unterbindet, verbreitert er gleichzeitig sein eigenes Machtgebiet über die Grenzen des ihm ursprünglich zugedachten Beherrschungsbereichs des öffentlichen Ordnungsdienstes hinaus. Der Kirche kann dieser staatliche Machtzuwachs aus zwei Gründen nur erwünscht sein: einmal verdingt sich ihr der Staat als Vollstreckungsorgan mit seinen physischen Kräften da, wo ihr eigene Ausführungsgewalt nicht zur Verfügung steht; ferner aber ist keine Macht imstande, sich für die Dauer stark zu erhalten, wenn sie nicht mit der Ausübung von Macht die Verleihung von Macht verbindet. Die Kirchenmacht läßt die Staatsmacht in ihre Bezirke ein, um ihrerseits wiederum Macht über Dinge zu erwerben, die in den weltlichen Geschäftskreis des Staates zu gehören scheinen. Die Macht über die Seelen, die sie kraft der religiösen Beeinflussung der Menschen ausübt,

Empfohlene Zitierweise:
Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Fanal-Verlag Erich Mühsam, Berlin 1933, Seite 269. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat.djvu/19&oldid=- (Version vom 31.7.2018)