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der Oberklasse erstreckt sich über alle Wirtschaftsgebiete mit Einschluß der Herstellung der Kriegswaffen, welche dazu dienen sollen, den Völkern im gegenseitigen Abmetzeln ihren nationalen Machtdünkel lebendig zu halten, sie also durch eingebildete Autorität der fühlbaren Autorität willfährig zu machen. Der Nationalismus, das ist der Hochmut, der sich auf Volks- und Staatszugehörigkeit stützt, hat dieselbe Quelle wie jedes Wertgefühl, das statt auf persönliche Leistung und soziales Verhalten auf Umstände gegründet ist, die außerhalb des Willens des einzelnen liegen: die Autorität, die kritiklose Anerkennung fordert, um Macht ausüben zu können, und die Autorität und Scheinmacht verleiht, um dem Machtgedanken die Gefahr des Zweifels an seiner Berechtigung fernzuhalten.

Die jüdische Gottvater-Lehre, die den einzigen, allmächtigen, allgerechten, allgegenwärtigen Gott mit dem finster drohenden Verlangen über die Menschen setzt, in unaufhörlichem Gebet angefleht, bewundert, der hingegebenen Verehrung versichert und für alles, selbst für jede Qual und Demütigung bedankt zu werden, schuf den westlichen Völkern die Voraussetzung zur Hinnahme der Vaterschaftsfamilie mit der gottähnlichen Stellung des über die Seinen herrschenden Oberhauptes. Diese autoritären Vorbilder haben auch dem Staat mit seiner nationalistischen Ideologie die Bereitwilligkeit der Menschen zur Untertanschaft unter eine zentralistisch schaltende Macht, zum Verzicht auf Selbstverantwortung, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung in den Dingen des gesellschaftlichen Zusammenlebens erschlossen. Gottvater, Vater, Vaterland – die Einwirkung auf die Gefügigkeit der Menschen geschieht überall auf die gleiche Weise, indem sie die soziale Gegenseitigkeitsverknüpfung, die natürlich weder an Hausmauern noch an Landesgrenzen aufhören kann, übersieht und die Ueberheblichkeit durch die Verpönung aller Glaubenslehren außer der eigenen, durch die Vergottung der eigenen Familie mit ihren Vorfahren und Eigentümlichkeiten, durch die Heiligsprechung der eigenen Nation und die Feindschaftspflege gegenüber anderen Völkern aus moralischer Verpflichtung großzieht. Es ist das Verhängnis der Juden, daß sie, die die Autorität in ihrer verwegensten Vollkommenheit als höchsten Ausdruck der Lebensgestaltung über die Menschheit gebracht haben, die Wirkungen ihrer Lehren am bittersten spüren müssen. Sie haben den Glauben an den einzigen Allgott, die gottgewollte Vaterautorität und folgerichtig die nationalistische Formel vom auserwählten Volk Gottes in die Welt gesetzt. Wer vom Vaterland spricht, spricht in jüdischer Denkweise, denn er bekennt sich zur Verherrlichung einer, nämlich seiner Nation, er bekennt sich zum auserwählten Volk. Aus diesem Bekenntnis leitet er das Recht ab, andere Völker zu hassen, zu verachten, zu vergewaltigen, und die Juden, ehedem selbst eine in räumlicher Umzäunung zentralistisch organisierte Nation, werden, über alle Länder verstreut, von nationalistisch besessenen Nachfahren ihres Geistes, aber anderen Stammes, als Eindringlinge, Feinde und verächtliche Fremde verfolgt, beschimpft, verleumdet und mißhandelt. Das natürliche Rechtsgewissen wird durch National- und Rassenüberhebung vernichtet. Gleiche Herkunft, gleicher Stammbaum, gleicher Wohnsitz und Versklavtsein an denselben Herrn genügt zur Aechtungsgemeinschaft gegen die Nachkommen anderer Ahnen und die Sklaven anderer Herren.

Es bedarf nach allem schon Gesagten keiner Begründung mehr, warum der Anarchismus mit nationalen oder rassischen Wertunterscheidungen unverträglich ist. Anarchie bezeichnet eine Menschengesellschaft, deren föderalistischer Aufbau die internationale Ausweitung aller Verbindungen, auch der gefühlsmäßigen, ohne weiteres bedingt. Die Organisation der Arbeit und des Zusammenlebens von unten herauf fußt auf der Kultur der Persönlichkeit, die sich mit anderen Persönlichkeiten im gleichen Streben zur Kameradschaft, zur Gemeinde, zum Wirtschaftsverband, zum geistigen Austausch im Sprachbezirk, im Umkreis wissenschaftlicher, künstlerischer, technischer, sportlicher, internationaler Verbände, zur Weltgemeinschaft zusammenfindet. Die Persönlichkeit zieht aber ihre Werte aus sich selbst, um nach ihrer Charakterbildung und ihrem Schaffen im sozialen Zusammenhange beurteilt zu werden. Die Haar-, Augen- und Hautfarbe der Vorfahren, die Frage, ob jemand diesseits oder jenseits eines Flusses geboren sei, ob seine Sprache und Lebensform von diesen oder jenen geschichtlichen, geographischen, klimatischen Umständen gestaltet wurde, kann nur von Machtlüsternen und Machthörigen als Urteilsmaß für Menschenwerte verwendet werden. Denn hier waltet der Drang, Grenzlinien zu schaffen, um allen menschlichen Organisationen die pyramidenförmige Gestalt, das Zusammenlaufen aller Fäden in eine Spitze, also Zentralisation, also Lenkung von oben herunter zu sichern, mit der

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Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Fanal-Verlag Erich Mühsam, Berlin 1933, Seite 275. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat.djvu/25&oldid=- (Version vom 31.7.2018)