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Auffassung kann nur wachsen aus der Selbstbestimmung derer, die Ordnung halten sollen. Ordnung aus Selbstbestimmung aber ist gleichbedeutend mit gesellschaftlicher Freiheit.

Freiheit ist der Inbegriff alles anarchistischen Denkens und Wollens. Um der Freiheit willen sind wir Anarchisten, um der Freiheit willen Sozialisten und Kommunisten, um der Freiheit willen kämpfen wir für Gleichheit, Gegenseitigkeit und Selbstverantwortlichkeit, um der Freiheit willen sind wir international und föderalistisch gesinnt. Dennoch ist das Wort Freiheit in dieser Aufzeichnung eines Grundrisses des anarchistischen Weltbildes bis jetzt mit Bedacht vermieden worden. Das geschah, weil der Wille zur Freiheit so ursprünglich und tief in den Seelen der Menschen steckt, daß keine noch so autoritäre Lehre ohne die Anwendung des Freiheitsbegriffs und die Behauptung, sie sei die eigentliche Inhaberin des Freiheitsgedankens, auskommen kann. Sogar jeder Staat, sei er demokratisch, faschistisch oder bürokratisch regiert, beruft sich auf die Freiheit, wenn er Gesetze erläßt, Kriege führt und Gesinnungen unterdrückt. Alle Revolutionen werden unternommen, weil die Unfreiheit unerträglich geworden ist, und ihr belebender Kampfruf gilt immer der Freiheit. Aber noch alle Revolutionen sind verlorengegangen oder doch von dem Wege abgeglitten, den die Revolutionäre gehen wollten, weil das Verlangen nach Freiheit unerfüllt geblieben ist. Denn keine Partei, die sich an die Spitze einer Revolution stellt, um sich an die Spitze des Volkes zu stellen, das heißt, um die Macht über die Menschen zu ergreifen, geht in ihrer Freiheitswerbung je über das Versprechen hinaus, sie werde den Zustand beseitigen, in dem sich das Fehlen von Freiheit gerade in die Erscheinung setzt. Niemals erfahren ihre Anhänger in faßlicher Bestimmtheit, wie die verkündete Freiheit insgesamt beschaffen sein soll. Im besten Falle werden Freiheiten versprochen, die in einzelnen Punkten Erleichterungen gegen das Bestehende darstellen, nicht aber ein freiheitliches Gesellschaftsbild insgesamt zeigen.

Freiheit ist indessen nichts, was gewährt werden kann. Freiheit wird genommen und gelebt. Auch ist Freiheit keine Summe von Freiheiten, sondern die alle Lebensumstände umfassende Einheit der von jeder Obrigkeit und jeder Autorität gelösten Ordnung der Dinge. Es gibt keine Freiheit der Gesellschaft, wenn die Menschen in Unfreiheit leben. Es gibt keine Freiheit der Menschen, wenn die Gesellschaft unfrei, zentralistisch, staatlich, machtmäßig organisiert ist. Die Freiheit der Anarchie ist die freie Verbündung freier Menschen zu einer freien Gesellschaft. Frei ist der Mensch, welcher freiwillig handelt, der alles, was er tut, aus der eigenen Einsicht der Notwendigkeit oder Wünschbarkeit seiner Tat verrichtet. Die Voraussetzung dafür, daß jeder Mensch nur in freiwilliger Entschlossenheit das Seinige tut, ist eine Gesellschaft, die keine Vorrechte durch Macht oder Eigentum kennt. Alles Eigentum und alle ideelle Macht schafft Abhängigkeit, hebt somit die Freiwilligkeit aller in allem Beschließen und Handeln auf, ist also mit wirklicher Freiheit unvereinbar. Daher haben die Individualisten unrecht, wenn sie den Satz aufstellen, jeder Mensch habe den Anspruch auf Freiheit, doch ende dieser Anspruch bei der Freiheit des Nebenmenschen. Wo das Recht auf Freiheit für den einzelnen irgendeine Schranke findet, besteht keine gesellschaftliche Freiheit. Wenn nämlich die Begriffe Freiheit und Freiwilligkeit völlig gleichgesetzt werden, kann die Freiheit des einen niemals durch die Freiheit des anderen beeinträchtigt werden. Andernfalls liefe ja die die Freiheit des Mitmenschen störende Handlung auf Inanspruchnahme eines Vorrechtes hinaus, es bestände also der Zustand der Macht und der Unterordnung. Wer jedoch Vorrecht und Macht ausüben will, ist dabei auf die Willfährigkeit von Mitmenschen angewiesen, handelt also selbst nicht mehr unabhängig. Auch hieraus wieder ergibt sich die vollständige Einheit von Gesellschaft und Persönlichkeit und die Richtigkeit der oben aufgestellten Behauptung, daß niemand frei sein kann, ohne daß es alle wären. Es bliebe noch der alte Einwand zu entkräften, daß die Freiheit der Menschen an der Erfahrungstatsache scheitere, die die Unselbständigkeit der meisten und ihr Angewiesensein auf einen Führer erweise. Abgesehen davon, daß die Unselbständigkeit der Mehrzahl das Erziehungsergebnis sämtlicher autoritären Mächte ist, die je Seelen und Arbeitskräfte der Menschen ausgebeutet haben, kann die unzweifelhafte Richtigkeit des Gemeinplatzes, daß es verschiedene Begabungen gibt, und daß für manche Erfordernisse Anweisungen geeigneter Sachkundiger zweckmäßig sind, als Beweis für die Naturbedingtheit gesellschaftlicher Unfreiheit nur von Leuten geltend gemacht werden, die unter dem Einfluß autoritärer Erziehung jeden Glauben an Freiheit verloren haben und selbst nach Macht streben. Wir Anarchisten verabscheuen

Empfohlene Zitierweise:
Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Fanal-Verlag Erich Mühsam, Berlin 1933, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat.djvu/28&oldid=- (Version vom 31.7.2018)