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Die kindliche Vorstellung, mit der Besetzung der Betriebe durch die Arbeiter und ihre einfache Weiterführung unter eigener Leitung werde die Revolution den Uebergang zum Sozialismus schon bewerkstelligt haben, ist so unsinnig wie gefährlich. Die Besetzung der Betriebe ist gewiß ein ausgezeichnetes Kampfmittel des unmittelbaren Eingreifens, aber ein Kampfmittel vor dem Umsturz und zum Zwecke des Umsturzes. Nach geschehener Revolution bedarf es des vollständigen Umbaues der Wirtschaft. Die Betriebe jeder Art sind unter kapitalistischen Verhältnissen in Einrichtung und Organisation ausschließlich den Gewinnberechnungen der Unternehmer angepaßt. Hier spricht keine Rücksicht auf das Verlangen der Menschen mit, keine Rücksicht auf die Erfordernisse der Gerechtigkeit, der Vernunft, auf Leben und Gesundheit von Arbeitern und Verbrauchern. Der Bedarf wird nur insofern in Betracht gezogen, wie er den Warenabsatz bei sicherem Nutzen für die Kapitalseinlagen bestimmt. Auch die Produktionsweise richtet sich, was Rohstoffbeschaffung, Massenherstellung von Einzelteilen, Behandlung von Halbfertigwaren, Beförderungsart usw. anlangt, nach Börsenabmachungen. Was aus den Waren wird, hängt nicht vom Begehren des Verbrauchers ab, sondern von Spekulationen der Fabrikanten, der Zwischenhändler und der Geldverleiher. Eine solche Wirtschaft, eine Wirtschaft, unter der die Mehrzahl der Menschen im ganzen Leben niemals zu einer auskömmlichen und gesundheitlich zweckmäßigen Lebensführung kommt, während gleichzeitig die Lager unter nicht verkäuflichen notwendigen Gebrauchsgütern zusammenbrechen, eine Wirtschaft, die viele Millionen ohne Arbeit in buchstäblichem Hunger verelenden läßt und die gleichzeitig wichtigste Nahrungsmittel verbrennt, ins Meer schüttet, in den Scheuern verfaulen läßt oder als Dünger verwendet, eine solche Wirtschaft läßt sich nicht einfach übernehmen und weiterführen. Sie muß von Grund aus umgestaltet werden. Diese Umgestaltung vorzubereiten, gehört zur praktischen Gegenwartsarbeit freiheitlicher Revolutionäre.

Ein Muster für solche Vorarbeit kann in dieser allgemeinen Wegweisung des Anarchismus nicht geliefert werden. Man muß statistische Vergleichungen vornehmen, um nach Landschatten und Bevölkerungsdichtigkeit den notwendigen Bedarf für Ernährung, Bekleidung, Behausung, Reinlichkeit und Gesundheit, Verkehr und Erholung festzustellen und danach einen Wirtschaftsplan zu errichten, der die zweckmäßigste Verteilung der Arbeitskräfte in Stadt und Land, die sichersten und erträglichsten Arbeitsmethoden und die vernünftigste Organisation der Zuleitung der Waren zu den Verbrauchern ermittelt. Danach kann errechnet werden, welche Betriebe bestehen bleiben, geschlossen, eingeschränkt oder erweitert werden müssen, welche Industrien neu zu schaffen oder zu beleben, in welcher Weise der Austausch, die Beschaffung von Rohmaterial, das Geld- oder Tauschwesen in der Uebergangszeit und späterhin für die Dauer zu ordnen ist. Ohne die gründlichste Beschäftigung mit allen diesen Fragen, deren endliche Lösung selbstverständlich dem Leben selbst vorbehalten bleibt, kämen die Arbeiter trotz aller revolutionären Siege niemals aus dem Lohnsystem heraus, kämen sie nie zu einer Befreiung vom laufenden Band und zur Freude an ihrer Arbeit, brächten niemals alle feiernden Hände in Tätigkeit und hätten weiterhin überfüllte Speicher und darbende Menschen.

Tausende von Zukunftsfragen türmen sich vor den Wegbereitern der Gegenwart auf. Mögen die anarchistischen Genossen die Zeit benutzen, in der die zentralistischen Parteien an den Paragraphen des kapitalistischen Systems herumflicken und mit den Faschisten Wettläufe zu den Staatspfründen veranstalten, die Schienenwege und Flußläufe auf ihre Eignung zu sozialistischer Verwendung zu prüfen, und die Möglichkeiten zu untersuchen, wie schnellstens alle arbeitenden, alten und kranken Menschen, wie alle Kinder und Frauen in gesunde Wohnräume überführt werden können, wie mit den Zwingburgen der Staatsknechtschaft, den Fürstenschlössern und Zuchthäusern, den Justizpalästen und Regierungsgebäuden zu verfahren ist, welche Anstalten der Kunst und des Wissens zu allgemeinen Bildungsstätten, welche Kirchen zu Versammlungsräumen, zu Orten wahrer Gemeinschaft und zu Schulen der Aufklärung gegen Autorität und Familie, oder zu Werbehallen der Freiheit verwandelt werden können. Der Boden des Sozialismus läßt sich schon in der Gegenwart ebnen, aber nur in freiwilliger Hingabe von sozialem Geist erfüllter, kameradschaftlich verbundener, der Revolution ergebener Persönlichkeiten.

Der anarchistische Gedanke wird von solcher vorsorgenden Arbeit den größten Vorteil haben. Das Beispiel einer nicht von oben befehligten Leistung im Dienste der Gesamtheit wird den Mut wecken, sich in allen Dingen lieber auf sich selbst als auf eine vorgesetzte Beamtenschaft zu verlassen. Denn die Anarchisten übergeben ihre

Empfohlene Zitierweise:
Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Fanal-Verlag Erich Mühsam, Berlin 1933, Seite 289. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat.djvu/39&oldid=- (Version vom 31.7.2018)