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zu den nur materialistisch gerichteten Lehren des Marxismus nicht als einzigen Inhalt seines Strebens, sondern als eine der unerläßlichen Bedingungen für die durchgreifende und alle Lebensbeziehungen erfassende Neuschaffung der Gesellschaft überhaupt. Der Begriff der Gleichheit möge nicht in der Bedeutung von Gleichmacherei verstanden werden. Im Gegenteil ist die Forderung der Gleichheit nichts anderes als die Forderung: Gleiches Recht für alle! Das heißt: gleiche Bedingungen für einen jeden, seine Anlagen zu ihren günstigsten Möglichkeiten zu entwickeln. Wirtschaftliche Gleichheit besagt soviel wie Ausschaltung aller aus widrigen Umständen, zumal aus Mangel, erwachsenen Störungen, die die Entfaltung der Individualität in ihrer Verschiedenheit von allen anderen Individualitäten behindern. Gleichheit, als Gleichberechtigung verstanden, unterbindet nicht, sondern ermöglicht erst das Wachstum der Persönlichkeit. Während die kapitalistische Gesellschaft das Kind des Reichen in seidene Steckkissen legt, es bei gewähltester Körper- und Geistespflege aufzieht, ihm hohe Wissensbildung zuführt und, ohne Unterschied der Begabung und des Charakters, ihm die Berufe der Herrschenden erschließt; während sie, ebenfalls ohne Unterschied der Begabung und des Charakters, das Kind des Armen in trüben Wohnlöchern, bei wenig Licht und schlechter Luft, in trauriger, gequälter Umgebung von früh an den Einflüssen und Eindrücken des Elends preisgibt, ihm den Unterricht versagt, der den Zwecken der Mächtigen Abbruch tun könnte, es zur Knechtsgesinnung erzieht und zur persönlichkeitstötenden Arbeit zwingt, – gewährt die Gleichheit des Sozialismus jedem Kinde Licht, Luft, Lust und Raum zum Gedeihen aller Keime, die aus Natur und Bewußtsein einen Menschen in seiner Besonderheit und in seiner Verbundenheit mit seinen Zeit-, Schicksals- und Artgenossen werden läßt. Der Kapitalismus treibt demnach ödeste Gleichmacherei in zweierlei Art, solche, die für die besitzende Klasse und solche, die für die ausgebeutete Klasse gilt; der klassenlose Sozialismus hingegen schafft für alle Menschen die Gleichheit der Voraussetzungen, auf denen jede Persönlichkeit in der vollen Mannigfaltigkeit ihrer einmaligen Wesenheit, aber in harmonischer Zusammengehörigkeit mit dem gesellschaftlichen Ganzen nach ihren Fähigkeiten Werte schafft, nach ihrem Bedürfnis an der Benutzung des Allgemeinguts teilnimmt.

Erst wenn auf solche Weise der Grundsatz der Gleichheit geistigen Sinn und sittliche Erhöhung erfährt, ist er nach anarchistischer Auffassung sozialistisch gerechtfertigt. Nicht auf den Ausgleich ins Wanken geratener äußerlicher Verhältnisse zwischen den Menschen kommt es an, sondern darauf, daß dieser Ausgleich aus innerlicher Notwendigkeit unternommen wird; und nicht die Ungleichheit an sich ist hinlänglicher Anlaß Gleichheit zu schaffen, sondern die Ungerechtigkeit, die in der Ungleichheit zutage tritt. Gäbe es nur materielle Erwägungen, um über die Fragen des sozialen Lebens zu entscheiden, wäre die Moral in der Tat nur die ideologische Einkleidung handfester Nutzensberechnungen, dann müßte man sich mit den Kapitalisten auf die waghalsigsten Auseinandersetzungen über die Zweckmäßigkeit ihres Systems einlassen. Der Hinweis auf Hunger leidende Kinder und auf alle übrigen Erscheinungen der Verelendung und Verwahrlosung der werktätigen Klasse könnte ja gar nicht von der Notwendigkeit überzeugen, daß ihre Ursachen abgestellt werden müssen, wenn die Produktionsweise wirklich überall und immer Ausgangspunkt des menschlichen Denkens, Wollens und Bewußtseins wäre. Die Produktionsweise der Gegenwart ist kapitalistisch. Daß sich im materiellen Dasein hieraus für Kapitalisten wie Proletarier ein bestimmtes Verhalten ergibt, versteht sich von selbst. Die marxistische Formel jedoch: das Sein bestimmt das Bewußtsein, bei der das Sein ausdrücklich als ökonomischer Zustand gekennzeichnet ist, ist höchst bestreitbar. Das Bewußtsein des Menschen wird außer von materiellen Werten noch von vielerlei Eindrücken bestimmt und empfängt aus seelischen Bewegkräften manchmal selbst da noch die stärkste Anregung, wo sich die Anteilnahme auf kapitalistische Tatsachen bezieht. Richtig ist, daß die Verhältnisse das Verhalten bestimmen, wobei keineswegs nur ökonomische Verhältnisse in Frage kommen, es können auch aus dem Charakter, der geistigen Besonderheit, der Bindung an andere Personen, dem Klima, dem kosmischen Geschehen entquellende Verhältnisse sein, und wobei das Verhalten ganz unabhängig von allen Produktionsformen von ursprünglichen moralischen Empfindungen angetrieben werden kann.

Der Kapitalismus freilich ist in all seiner Wirksamkeit auf nur materialistische Denkweise angewiesen. Er kann der logischen Erwägung, daß im Elend lebende und vom Genuß der gesellschaftlichen Güter in weitem Maße ausgeschlossene Volksschichten eine Schädigung des sozialen Wohlstandes bedeuten, ihre Züchtung daher materiell unzweckmäßig sei, seine Logik entgegenstellen, wonach die Ansammlung der Besitzgüter in den Händen einer geringen Zahl von Großverbrauchern die nützlichste Verwendung der benötigten Arbeitskräfte erlaube, wobei als Gradmesser der Nützlichkeit natürlich die

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Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Fanal-Verlag Erich Mühsam, Berlin 1933, Seite 257. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat.djvu/7&oldid=- (Version vom 31.7.2018)