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aller moralischen Einschätzung entrückten und auf Machtverhältnisse gestützten materiellen Bedürfnisse der Kapitalisten gelten. Mit der Logik allein und gar mit der wissenschaftlich aufgepolsterten Lehre vom historischen Materialismus ist das Wirtschaftssystem des Kapitalismus nicht zu widerlegen, noch weniger zu bekämpfen oder durch ein besseres System zu ersetzen. Von irgendeinem unpersönlichen Standpunkte aus kann man den Dingen, die sich so gut wie ausschließlich im persönlich Menschlichen auswirken und gerade durch ihre Bedrückung der persönlich Betroffenen als unerträglich empfunden werden, nicht beikommen. Die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft an Stelle der kapitalistischen ist, obwohl die tatsächlichen Veränderungen hauptsächlich in der vollständigen Neuordnung des wirtschaftlichen Gemeinschaftslebens bestehen werden, als Notwendigkeit nur unter den Gesichtspunkten der den Menschen angeborenen gesellschaftlichen Ethik zu erweisen. Hier ist einer der entscheidenden Gegensätze zwischen der anarchistischen und der marxistischen Lehre vom Sozialismus. Die Kapitalisten haben nie versucht, die Grundsätze ihres Verfahrens zum ewigen Menschheitsgesetz zu erheben. Sie wenden den Kapitalismus an, weil er ihnen die Macht über das Proletariat und die Vorrechte ihrer Ausnahmestellung sichert. Die kümmerlichen Rechenkunststücke, die die Ertragsunfähigkeit der Erde behaupteten, kraft deren immer nur eine erlesene Minderheit Wohlstand genießen könne und die große Mehrheit von der Natur selbst zur entbehrungsvollen Sklaverei verurteilt sei, werden sogar von dieser Minderheit nicht mehr ernst genommen. Da erschien als Retter in der Not der Marxismus mit der verwegenen Theorie von der Gesetzmäßigkeit der Denk- und Handlungsweise, die bisher nur der Kapitalismus bis zur letzten Folgerichtigkeit ins soziale Leben getragen hatte. Der Materialismus, das ist die Weltgestaltung aus rein rechnerischen Erwägungen, die Ordnung des Lebens unter nichts als Stoffwechselgesichtspunkten, – diese geistlose Herabwürdigung aller Menschheitsfragen zu bloßen Angelegenheiten der Produktion und Verteilung, erhielt die Weihe einer schicksalgewollten, unabänderlichen, ewig gültigen Einrichtung der Natur. Wir Anarchisten bekämpfen den Kapitalismus, weil er die geistigen und sittlichen Werte der Menschheit den Gewinn- und Machtgelüsten einer skrupellos materialistisch denkenden Herrenschicht unterordnete. Wir glauben, daß der Klassencharakter der Gesellschaft, wie ihn der Kapitalismus bis zum Auseinanderklaffen der Völker in zwei verschiedene Tiergattungen ausgebildet hat, nur durch die Ueberwucherung des gesamten Lebens von materialistischem Denken und Trachten möglich wurde; daß aber umgekehrt die Uebersteigerung der materialistischen Triebe immer und unter allen Umständen zu Klassenscheidungen der Gesellschaft, mithin zur Versklavung des einen Teils und zur Herrenmacht des anderen Teils führen muß. Wir glauben ferner, daß die Verrottung der kapitalistischen Gesellschaft, ihr hilfloses Herumtorkeln in der eigenen Mißwirtschaft, ihr Zufluchtsuchen bei Kriegen und immer brutalerer Knechtung der enteigneten und entrechteten Massen ihre tiefste Ursache im Widersinn des nur materialistischen Fühlens, Denkens und Handelns hat. Die Natur läßt sich auf die Dauer nicht in der Weise mißhandeln, daß die Ernährung und die Sicherung des physischen Seins, für die Vorsorge zu treffen Voraussetzung und Bedingung des Lebens ist, zum Inhalt des Lebens gemacht werden. Daraus entsteht mit Notwendigkeit Raffsucht, Uebervorteilung und Macht, die in allen Fällen zugleich Machtmißbrauch ist. Wir wollen den Sozialismus, weil wir in dieser Gesellschaftsform die Bürgschaft erkennen, dem Dasein der Menschen eine Grundlage der materiellen Notwendigkeiten und Bequemlichkeiten zu sichern, auf der sich das gesellschaftliche Leben zu den besten Möglichkeiten seelischer und geistiger Verbindung emporheben kann. Und nun wird den Sozialisten eine Lehre gebracht, die das Wesen des Kapitalismus ausgezeichnet darlegt, alle seine Erscheinungsformen erklärt und in ihren Wirkungen sichtbar macht. Aber aus Entstehen und Walten des Kapitals wird ein Gesetz abgeleitet, als ob die Einrichtungen, die die Menschen sich geschaffen haben, von Natur wegen bedingt wären, dieses Gesetz wird umschmückt mit den Perlen philosophischer Erkenntnis und unumstößlicher Wissenschaft, und denjenigen, welche den Kapitalismus stürzen, den Sozialismus an seine Stelle setzen sollen, wird gesagt: der Sozialismus könne nur auf denselben Grundlagen erwachsen wie der Kapitalismus; der Materialismus, der der Urstoff des Kapitalismus ist, müsse erkannt werden als historischer Materialismus, somit als der Urstoff jeder Gesellschaftsordnung. Die materialistische Betrachtungsweise lehrt, daß der Kapitalismus nur werden konnte, was er ist, Ausdruck der modernen Sklaverei, der Entpersönlichung der Menschen, der Unterwerfung des Willens unter den Mechanismus eines nur ökonomischen Getriebes, weil er, zwar nicht theoretisch, so doch praktisch die materialistische Nützlichkeit zum Hebel aller gesellschaftlichen Kräfte machte. Ihr Sozialisten aber, sagen die Marxisten, seid den Kapitalisten dadurch noch über, daß ihr sogar die Theorie habt; geht hin und

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Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Fanal-Verlag Erich Mühsam, Berlin 1933, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat.djvu/8&oldid=- (Version vom 31.7.2018)