Seite:Die Erotik (Andreas-Salome).djvu/61

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


LEBENSBUND

DASS ABER unsere Liebesträume uns nur so hoch entrücken, um, wie von einem Sprungbrett, diesen Sprung zu tun von ihrem Himmel auf die Erde hinab, das bekommt ihnen desto besser, je machtvoller sie als Träume waren. Denn als ursprünglich bloße Begleiterscheinungen, Überschüsse, an den leiblich bedingten Vorgängen, und dadurch ins Wahnhafte verflüchtigt, sind sie ja schon ihre eignen Wirklichkeitsvorläufer, Lebensverlanger, Zukunftszeichen, Versprechen; ihr Lebensinstinkt muß in die ganze Breite des „Wirklichen“, Simplen, Grobgegebenen greifen, wie ein ins Gespensterhafte Verzauberter nach seinem Leibe greift, und war es die unscheinbarste Leibhaftigkeit, um daran zu sich selbst zu kommen.

Aber es ist nicht unverständlich, warum Leute im Liebesrausch, und mit ihnen Sensitive jeder Art, den Kontakt mit dem Außendasein dennoch als Enttäuschung empfinden können: und nicht allein eine mißratene Verwirklichung ihrer Träume, sondern auch die bestgeratene schon, – ihr Sich-einlassenmüssen mit dem groben Material an sich. Ist doch, was ins Leben tritt, damit gleichsam ein Sterbeakt dessen, was es war, – als Tod um so fühlbarer, je mehr es eine geistig gegebene Einheit war, – äußert es sich doch in einem Auseinanderfallen in Teilungen, Vermischungen, an denen die Erstgestalt so sicher zerbricht, wie der Keim im Mutterleibe unter dem lebenvermählenden Anstoß, der ihn furcht und gliedert. So ist auch zuzugeben, daß Liebesrausch und Lebensbund einander nicht ähnlich bleiben, daß der Hohn nicht total

Empfohlene Zitierweise:
Lou Andreas-Salomé: Die Erotik. Frankfurt am Main 1910, Seite 61. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Erotik_(Andreas-Salome).djvu/61&oldid=- (Version vom 17.8.2016)