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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

ohne gehörige Vorbereitung, d. h. ohne vorhergehende Uebung im Vortrage eines bereits niedergeschriebenen Aufsatzes sogleich zum freien (extemporanen) Vortrage geschritten wird. Vor oberflächlicher Geschwätzigkeit aber soll uns eben eine ernste und gründliche Redezucht bewahren. Und eben darum kommt auch bei uns jener Grundsatz der Alten „Stylus optimus decendi magister“ zu reellster Anerkennung. Den Styl aber auf alle Weise zu üben, soll Aufgabe der Schule sein, und dieselbe soll durch Bildung des Styles eben das Möglichste beitragen zur Bildung der Redefertigkeit, zur Bildung von Rednern; wenn auch damit keineswegs gesagt sein soll, „daß die Lehrer für die Leistungen der Schule (und der künftigen Redner) in Hinsicht des mündlichen Vortrags verantwortlich sein können.“ Denn nicht gegen alle Hindernisse des Gedeihens der Beredsamkeit bei uns und in unsern Tagen mit Erfolg anzukämpfen, ist dem Lehrer möglich. Dahin aber gehört u. a. „die tiefeingewurzelte Gewöhnung unserer Zeit an die Mittheilung durch Schrift und Druck;“ und die Druiden des alten Galliens waren nachdenkende Philosophen, wenn sie nicht gestatteten, daß ihre Zöglinge das, was sie zu lernen hatten, sich aufschrieben, sondern ihnen Alles mündlich beigebracht und dem Gedächtnisse eingeprägt wissen wollten, und wenn sie dies aus dem Grunde nicht gestatteten, den Cäsar ihnen beimißt: „quod non velint eos, qui discant, literis confisos, minus memoriae studere etc.[1]

Zu jenen Hindernissen aber gehört ferner der gewaltige Unterschied unserer neueren, der Beredsamkeit weniger günstigen politischen Verhältnisse, denen des alten Griechenlands z. B. gegenüber, wo der Rhapsode:

– Mit dem lebenden Wort horchende Völker entzückt,
Der vom Himmel den Gott, zum Himmel den Menschen gesungen
Und getragen den Geist hoch aus den Flügeln des Lieds.

Zu jenen Hindernissen eines glücklichen Gedeihens deutscher Beredsamkeit dürfte wohl auch nicht mit Unrecht gerechnet werden der Mangel an eigenen Universitätslehrstühlen – oder Docenten für diesen Unterrichtszweig, welche die neuere deutsche Literatur zum Gegenstande ihrer Vorlesungen machen sollten.




Der Bernstein.
Das erste Vorkommen des Bernsteins. – See- und Landbernstein. – Die Manipulation des Bernsteinschöpfens und des Bernsteingrabens. – Werth der Waare. – Verarbeitung des Bernsteins. – Die verschiedenen Strafen bei unbefugtem Sammeln des Bernsteins. – Künstlicher Bernstein.

Das merkwürdigste Product Preußens, und eins der bemerkenswerthesten Naturerzeugnisse überhaupt, ist der Bernstein. Derselbe – auch Börnstein, Agtstein und Aitstein genannt, von den altdeutschen Wörtern „börnen“ und „aiten“, welche „brennen“, resp. „gebrannt sein“ bedeuten – war bereits im grauen Alterthum bekannt. Die „hochbusigen“ Trojanerinnen nicht minder, als die Frauen der hellenischen Helden, welche auf den „geflügelten, langgestreckten“ Schiffen gekommen waren, Ilium zu verderben, schmückten sich mit Bernstein-Korallen. Beide, Trojaner und Griechen, erhielten den Bernstein von den Phöniciern oder Phöniken, den Briten der alten Welt. Dieselben holten den Bernstein von der Küste, an welcher er noch heutigen Tages am häufigsten gefunden wird, von der preußischen. Die Mythe ließ den Bernstein aus den Thränen entstehen, welche die Schwestern Phaëtons vergossen, als dieser illegitime Sprößling des Helios bei seinem kecken Versuche, mit dem Sonnenwagen zu kutschieren, ein schreckliches Ende genommen. In Pappeln verwandelt, die am Ufer des Eridanus standen, verhärteten, gleich den Leibern der holdseligen Jungfrauen, auch die Thränen, welche sie (jedenfalls in ansehnlichen Quantitäten) geweint, und wurden zum Bernstein.

Unter „Eridanus“ verstanden die Hellenen zur Zeit Homer’s den heutigen Po, ihre Nachkommen einen Fluß, der in die Nordsee mündet (etwa Maas, Schelde oder einen der Rheinarme), und erst etwa um die Zeit von Christi Geburt - also zu einer Zeit, wo Sidon und Tyrus, die einstigen Metropolen Phöniciens, bereits Trümmer waren und das Volk der Phöniken nur noch in der Geschichte lebte - erfuhr man den wirklichen Fundort des Bernsteins, die „Nehrung“ genannte, sandige Vorküste Westpreußens. Hier lebt übrigens noch heutigen Tages der Name „Eridanus“ fort, nur corrumpirt in „Radaune“, welchen Namen ein 9 1/2 Meilen langer Nebenfluß der Weichsel (oder eigentlich der Mottlau), welcher oberhalb Danzig in diese fällt, führt.

Lange hielt man den Bernstein, wie auch seine Bezeichnung als „Stein“ andeutet, für ein Mineral; neuere Untersuchungen haben jedoch erwiesen, daß er unzweifelhaft vegetabilischen Ursprungs und den Pflanzenharzen beizuzählen ist, obschon ihm einige Eigenschaften derselben abgehen. Wahrscheinlich floß er aus einem zur Gattung der Coniferae gehörigen Nadelholzbaune, welcher bei einer der mehrfachen Erdumgestaltungen untergangen ist. Daß dies zur Zeit der Tertiär- Formation (dritten Umgestaltung der Erdoberfläche), also in der Periode der Braunkohlenbildung, geschehen sei, nahm man früher allgemein an; Professor Göppert in Breslau hat jedoch nachzuweisen sich angelegen sein lassen, daß nicht schon in jener Urperiode, sondern erheblich später, nämlich bei der vorletzten oder letzten Erdumwälzung, die Bernsteinbildung vor sich gegangen sei. Hierfür spricht vorzüglich der Umstand, daß die häufig in Bernstein eingeschlossen gefundenen kleinen Thiere, meist Insecten, mit den heutigen Tages lebenden entweder identisch oder doch im Wesentlichen übereinstimmend sind.

Der Bernstein hat sonach, trotz seiner immerhin schon recht ehrwürdigen Bekanntschaft mit den Phöniciern, kein sehr hohes Alter im Sinne der geologischen Wissenschaft, welche bekanntlich nicht nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten, sondern nach Jahrtausenden zählt. Sein häufiges Vorkommen gerade unter diesen nordischen Breiten zu erklären, nimmt man an, daß er ein Baumharz ist, welches, äußerst dünnflüssig und schnell verhärtend, in reicher Fülle sich aus einem fichtenartigen Baume ergoß, der, als die nordischen Gegenden, die das heutige Preußen bilden, noch ein milderes Klima hatten, hier und in einem großen Theile des gegenwärtigen Ostseebettes weit sich ausdehnende Wälder bildete, welche zerbrochen und begraben wurden, als vom hohen Norden her gigantische Fluthen mit Eismassen hereindrangen, Alles verwüsteten und gleichzeitig das warme Klima in ein kaltes verwandelten. Uebrigens kommt der Bernstein nicht blos an den Küsten und im Flachlande Ost- und Westpreußens – wenn schon hier vorzugsweise – sondern auch in Pommern, Schlesien, dem südlichen Schweden und Norwegen, ja auch, allerdings nur sehr sporadisch, an den Küsten von Sizilien und Südfrankreich vor.

Seinem Fundorte nach ist der Bernstein entweder See- oder Landbernstein; ersterer wird vornehmlich durch Schöpfen, letzterer durch Ausgraben an der Küste und im Innern gewonnen. Das Schöpfen wird zu jeder Jahreszeit betrieben und folgendes Verfahren dabei beobachtet. Wenn der durch Sturm oder sonstige Wellenerregung vom tiefen Seegrunde losgerissene, vom Seetang getragene Bernstein sich dem Ufer nähert, so gehen die „Schöpfer“ – meist rüstige Fischer, die aber mehr der „goldenen Gabe des Meeres“ (dem Bernsteine), als ihrem eigentlichen Gewerbe vertrauen – sobald sie das ankommende Kraut bemerken, in grobe wollene Röcke oder lederne Cuirasse gekleidet, mit Handnetzen oder Käschern, die an ziemlich langen Stangen befestigt sind, bis über die Brust in die See hinein und schöpfen, mit ihren Netzen tief nach dem Grunde des Meeres hinfahrend, den Bernstein sammt dem Tang (einer unliebsamen, aber unvermeidlichen Zugabe) auf, nähern sich dem Strande und werfen Beides an’s Land. Hier werden von Weibern und Kindern sorgfältig die Bernsteinstücke vom Kraute abgelesen und nach Hause getragen, während die Männer sich meist zum nächstgelegenen Wirthshause begeben und dort Bacchus, dem Sorgenbrecher, in ganz abscheulichem Kartoffelfusel Libationen darbringen, die, je nachdem Neptun den „Zug“ gesegnet, mehr oder minder reichlich ausfallen.

Dies ist die gewöhnliche Art, in welcher dem Meere sein fossiler Reichthum abgenommen wird. Minder groß, wenn auch keineswegs ganz unerheblich, ist das Quantum Bernstein, welches Poseidon freiwillig den „Landratten“, diesen Geschöpfen seines Bruders Jupiter, zum Besten gibt, oder, in minder mythologischer Redewendung,

  1. Selbstverständlich hielten sie wohl auch diesen Grundsatz beim Geschichtsunterrichte fest – ein beschämendes Spiegelbild für die gegenwärtige Art desselben in Frankreich!
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 445. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_445.jpg&oldid=- (Version vom 6.8.2023)