Seite:Die Gartenlaube (1853) 055.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

No. 6. 1853.
Die Gartenlaube.


Familien-Blatt. – Verantwortlicher Redakteur Ferdinand Stolle.


Wöchentlich ein ganzer Bogen mit Illustrationen.
Durch alle Buchhandlungen und Postämter für 10 Ngr. vierteljährlich zu beziehen.


Getreu bis zum Ende.

(Erzählung aus der Wirklichkeit.)

Es war im Winter. Napoleon reis’te in der Nacht mit einem Adjutanten nach Spanien ab, wo der Krieg begann. Am Morgen rollte der Wagen in der grauen Ebene hin. In einiger Entfernung zeigte sich ein großartiges altes Schloß. „Sind Sie bekannt hier?“ fragte Napoleon den Adjutanten. „Wie heißt das Schloß?“

„Kervegan, Sire. Es wurde 1794 von den republikanischen Truppen belagert. Ich selbst war dabei.“

„Erzählen Sie mir davon.“

„Die Vendée war unterworfen, nur dies Schloß hielt sich noch, in welchem sich Graf Kervegan mit seinen vier Söhnen und etwa hundert seiner Getreuen eingeschlossen hatte. Mein Regiment erhielt den Befehl, das Schloß um jeden Preis zu nehmen. Wir griffen es vergeblich an und hatten bedeutenden Verlust. Zugänglich war das Schloß nur von einer Seite her, wo es an einen sehr großen Teich stieß. Ich bekam den Auftrag, in Böten mit etwa hundert Mann in der Nacht über den Teich zu fahren, an den Stufen auszusteigen, die von dem Schlosse da hinabführten und durch die kleine Thür einzudringen. Die Nacht war sehr finster; ich langte in einem kleinen Boote zuerst mit vier Mann an. Die Thür gab bald nach. Sie führte in einen schmalen Gang und zu einer zweiten Treppe. Ich trat mit meinen vier Mann hinein, als eben draußen ein anderes Boot anlangte. Da schloß sich plötzlich, wie durch Zauberei, die Thür nach dem Teiche zu, aus allen Fenstern knallten Schüsse und meine Leute sahen sich unter dem mörderischen Feuer bald genöthigt umzukehren. Ich drang mit meinen vier Mann vor und gelangte bald in einen großen Saal voll Bewaffneter. Wir unterlagen der Uebermacht.

„Lassen Sie es sich bei mir gefallen,“ sagte dann der Besitzer des Schlosses; „lange werden Sie nicht zu warten haben, denn wir besitzen nur noch auf acht Tage Lebensmittel. Pulver indeß haben wir genug und wir halten uns bis zum letzten Augenblicke.“

Neben ihm standen zwei junge Männer, einer von zwanzig, der andere von etwa fünfzehn Jahren, seine Söhne.

„Sie störten uns bei dem Abendessen,“ fuhr der Schloßherr fort; „Graf Kervegan ist nicht mehr reich, aber Sie finden an seinem Tische doch noch alten Wein und freundliche Gesichter. Begleiten Sie uns und theilen Sie mit uns was wir haben.“

Wir gingen in den Speisesaal, in dem eine Tafel mit wenigstens sechzig Gedecken stand. Oben an derselben

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_055.jpg&oldid=- (Version vom 15.4.2020)