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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

Blätter und Blüthen.

Locomotiv-Dörfer in Amerika. Bekanntlich giebt es in Australien Städte von Leinwand bis zu 60–80,000 Einwohner, abgesehen von den Dörfern und Städten, welche Auswanderer aus England in Kisten und Kasten mitbrachten, bestehend aus Häusern, die je in 2–3 Kisten gepackt zugleich alles nöthige Mobiliar und Küchengeräth enthalten. In Amerika giebt es ganze fliegende Dörfer. Auf der Chicago-Missisippi-Eisenbahn stehen solche Dörfer auf Rädern und diese Räder auf Schienen, auf welchen sie je nach Bedarf wie ein Eisenbahnzug fortgezogen werden. In diesen Dörfern wohnen die Eisenbahnarbeiter mit vollständigen Wirthschaften, sogar Kühen und Schafen, die am Tage weiden. Sie gewähren den Vortheil, daß die Arbeiter überall ganz nahe bei ihrer Arbeit wohnen und zwar häuslich und bequem wohnen können, so daß die Demoralisation und Mortalität derselben vermieden wird.


Literarisches. Mit den langen Abenden und den kalten Herbstwinden kömmt nun auch die „Schöne Literatur“ wieder in Masse angezogen. Ist es doch, als könnte die Poesie so recht nur in Sturm und Kälte gedeihen. Selten bringt der Sommer etwas Neues. Für die Leihbibliotheken bietet der literarische Markt bereits große Auswahl. Außer den vielen Uebersetzungen englischer und französischer Novellen erschienen Originalromane von Franz Lewald[WS 1]: Wandlungen; von Belani ein dreibändiger historischer Roman: Hohe Liebe, aus dem Leben des Freiherrn von Trenk; von Norden eine dreibändige Erzählung: das Abenteuer im Riesengebirge; von A. Schoppe ein historischer Roman: der Prinz von Viana. Gutzkow, sagt man, arbeite ebenfalls wieder an einem größern Roman. Von Roquette, dem Verfasser des reizenden „Waldmeisters Brautfahrt“ erscheint nächstens ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen: das Reich der Träume; von Carl Beck eine Erzählung: Mater dolorosa; von Alex. Jung ein erzählendes Gedicht: Don Alonso, und von Ludwig Storch endlich dessen längst erwarteten Gedichte, auf die wir im Voraus aufmerksam machen.


Die Schnellläuferin. In England, wo das „Wettgehen“ (pedestrianism) zu den verbreitetsten Volksbelustigungen gehört, hat sich auch eine Dame Lorbeeren auf diesem Felde erworben. Mrs. Dunn in Noohs Ark, Hartshill, hat ihre Wette, in 1000 Stunden 1000 (englische) Meilen zu gehen, glänzend gewonnen und einen Umsatz von mehreren Tausenden von Pfunden unter den Wettenden hervorgerufen.


Das Meer der Töne. Die menschliche Stimme ist blos neun vollkommener Töne (in verschiedenen Octaven natürlich) aber dabei 17,592,186,044,415 verschiedener Laute fähig, eine Anzahl, die man mathematisch-arithmetisch genau berechnet hat, von deren Vielheit sich aber die großartigste arithmetische Phantasie keine annähernde Vorstellung machen kann. Die vierzehn directen Muskeln, mit welchen Laute gebildet werden, können einzeln oder in Verbindung nur 16,383 Laute erzeugen, die 13 indirecten Muskeln einzeln oder in Verbindung 173,741,823 und die 27 Muskeln zusammen die obige ungeheure Summe, wobei natürlich die verschiedenen Grade von Stärke, deren jeder einzelne Laut fähig ist, nicht mit berechnet sind. Das Meer der Töne und Laute, durch welche der Mensch seine Seele strömen lässt, besteht aus mehr Wellen und Wogen, als alle Meere und Oceane zusammen.


Alte Schulzucht.. Der Freiherr Ludw. v. Wolzogen, dessen Memoiren Alfred v. Wolzogen herausgegeben hat, erlebte auf der Karlsschule in Stuttgart, wo er seit seinem achten Jahr unterrichtet wurde, unter andern zwei ergötzliche Vorfälle, die wir hier mittheilen. Der Herzog Karl erschien fast täglich in den Klassen und war bei den Prüfungen der Schüler, denen er oft selbst Fragen vorlegte, gegenwärtig. Bei einer solchen Gelegenheit nun hatte sich ein Schüler in der Mathematik so schwach bewiesen, daß der Herzog, darüber erzürnt, ihn anfuhr: er solle sich zum Teufel scheren und Wolzogen an die Tafel lassen. Dieser, nicht viel besser beschlagen als sein Vorgänger, und also gleiches Schicksal befürchtend, erinnerte sich zu seinem Glück, daß der Herzog von der Mathematik ebenfalls wenig verstand und durch Keckheit leicht zu täuschen sein werde. Er begann also drauf los zu demonstriren und gelangte zu einer Gleichung, bei welcher dem Lehrer und den Schülern die Haare zu Berge standen, der Herzog aber ihn der ganzen Klasse als Muster vorstellte. – Noch interessanter ist der zweite Fall. Vergehen der Schüler wurden auf Zetteln verzeichnet, welche sie eigenhändig dem Herzog überreichen mußten. Eines Tages kam dieser am Arm seiner Franziska von Hohenheim in die Klasse, wo ihm ein Schüler, Graf Nassau, der gewöhnlich reichlich mit dergleichen Zetteln versorgt war, auch diesmal ein ziemlich starkes Sündenregister überreichte. Das war ihm doch zu arg und er herrschte den Delinquenten zornig an: Aber Graf Nassau, wenn Er nun Herzog wäre und ich Graf Nassau, was würde Er dann mit mir anfangen? Ohne sich zu besinnen, ergriff der so Gefragte den Arm der liebenswürdigen Franziska, gab ihr einen derben Kuß und sprach: Euer Durchlaucht, das würde ich thun und sagen: Komm, Franzel, laß den dummen Jungen stehen. – Der Herzog, frappirt von solcher Geistesgegenwart und Unverschämtheit, hielt es fürs Gerathenste, die Sache als einen Scherz aufzunehmen und obendrein dem Schuldigen die wohlverdiente Strafe zu schenken.


Die Fortsetzung des in Nr. 39 begonnenen Artikels: Thüringer Gewerbeausstellung von Wieck konnte wegen Mangel an Raum in der heutigen Nummer nicht zum Abdruck kommen; sie folgt in Nr. 41.D. Red.      



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. eigentlich Fanny Lewald
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 440. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_440.jpg&oldid=- (Version vom 14.5.2023)