Seite:Die Gartenlaube (1856) 024.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

„Geißelung“ betitelt. Wir urtheilen nicht über Recht oder Unrecht in diesem Streit; wir wollen dieses unseren Lesern je nach ihrer Anschauungsweise selbst überlassen und weisen lediglich auf die außerordentlichen poetischen Schönheiten, auf die Schilderungen und Beschreibungen in der versificirten Polemik hin.

Die neuern Schicksale Victor Hugo’s auf der Insel Jersey haben seinen Namen wieder in den Vordergrund gedrängt, doch ist er selbst weniger thätig aufgetreten. In den nächsten Tagen wird eine neue Sammlung unpolitischer Dichtungen von ihm erscheinen, von der man sich viel schönes verspricht.



Botanische Vorlesungen für Frauen.[1]
Von E.[WS 1] A. Roßmäßler.
1. Das Pflanzensystem.

Wenn Ihnen vor einigen Tagen[2] der gerade jetzt höchst jahreszeitgemäße Kohlenstoff vorgeführt wurde, so könnte es dagegen ein Verstoß gegen die Jahreszeit genannt werden, im rauhen Novemberwetter von der Pflanzenwelt zu sprechen. Mich entschuldigt aber zunächst der Umstand, daß die Pflanzenwelt im Winter, selbst in unserer nördlichen Breite keineswegs ganz erstorben ist. Es bleiben noch genug Pflanzen auch im Winter lebendig, wobei ich weder an die zahllosen schlummernden, aber doch lebendigen Knospen des winterlichen Waldes denke, noch an Ihre blumengeschmückten Zimmer. Ich habe die Moose und Flechten und viele andere noch viel einfachere Pflänzchen im Sinne, welche jetzt trotz der Winterkälte ihr genügsames Leben, meist unbemerkt von den Menschen, fortspinnen. Sollte es einer weiteren Rechtfertigung botanischer Wintervorträge bedürfen, so brauche ich Sie, meine Damen, nur daran zu erinnern, daß es nur die Pflanzen sind, welche uns den gerade jetzt so wichtigen und unentbehrlichen Kohlenstoff zubereiten, daß also mein erster botanischer Vortrag sich ganz naturgemäß an den chemischen Vortrag über den Kohlenstoff anschließt. Die Chemie vermag viel, – und wir werden im Verlaufe dieses Winters oft davon hören – aber uns den Kohlenstoffbedarf für unsere Haushaltung zu bereiten vermag sie nicht. Wir danken ihn lediglich der Pflanzenwelt, nicht nur den in unserem Brennholze, sondern auch den der Stein- und Braunkohlen.

Wir haben also einen ganz berechtigten Ausgangspunkt für unsere botanischen Winterbetrachtungen. Dem Mangel lebender Gewächse werde ich durch Bilder abzuhelfen suchen.[3]

Ueberschauen wir die Pflanzenwelt, wie sie uns in Wäldern und Fluren, auf Wiesen und in Gärten umblühete, so empfinden wir, nachdem wir uns, jetzt freilich nur in Gedanken, an ihrer Schönheit und Mannichfaltigkeit erquickt haben, das Bedürfniß, in dieses schöne, formenreiche Vielerlei eine übersichtliche Ordnung zu bringen. So ist das System des Pflanzenreichs nicht allein eine Schöpfung botanischer Gelehrsamkeit, es ist auch die Befriedigung eines Wissensbedürfnisses jedes denkenden Menschen.

Das System bringt also Ordnung in das Gewächsreich. Dieses Unternehmen ist aber bei der außerordentlich großen Zahl und tausendfacher Mannichfaltigkeit der Gewächse keine leichte Aufgabe. Jeder geordneten Zusammenstellung eines Haufens ähnlicher und doch in ihren Einzelnheiten vielfältig verschiedener Dinge muß eine leitende Idee zum Grunde liegen. Linné ordnete die Pflanzen, wie Sie alle wissen, nach den Befruchtungstheilen der Blüthe. Hätte er einen anderen leitenden Gedanken gewählt, etwa die Beschaffenheit der Blumenkrone, des Kelches, der Frucht, der Blätter, so hätte er nach jedem dieser Theile eine andere Ordnung, ein anderes System erhalten; und in der That, es haben andere Botaniker Pflanzensysteme auf diese Theile gegründet. So erhalten wir eine Mehrzahl von Pflanzensystemen; jedes stellt eine andere Ordnung des Pflanzenreichs her. Aber diese Ordnungen sind willkürliche, denn es liegt in eines jeden Botanikers freier Willkür, diesen oder jenen Pflanzentheil dabei zum Grunde zu legen. Deshalb nennt man solche Systeme mit vollem Recht künstliche. Sie haben nur den sehr untergeordneten Werth, in das Chaos der Formen einige Uebersichtlichkeit zu bringen, die sehr oft gar sehr gegen die allgemeine natürliche Verwandtschaft verstößt. So finden sich z. B. in der fünften Linné’schen Klasse das Veilchen, der Kümmel, der Flieder, das Primel, die Stachelbeere, der Lein, das Vergißmeinnicht beisammen. Welch' eine gewaltsame Vereinigung ganz unverwandter Pflanzen, blos weil alle diese Pflanzen fünf Staubgefäße in den Blüthen haben! Sie würden in einem Systeme nach der Beschaffenheit der Blumenkrone in andere Genossenschaften gerathen, denn Primel, Flieder und Vergißmeinnicht haben eine aus einem Stück bestehende Blumenkrone, die übrigen eine aus mehrern Blättern zusammengesetzte. Nach einem Blättersysteme würden sie natürlich wieder anders vergesellschaftet werden.

Das natürliche System sieht nicht einseitig blos auf einen Theil der Pflanzen, sondern es faßt die ganze Pflanze in’s Auge; und wenn es auch dann und wann bei einem einzelnen Pflanzentheile stehen bleibt, so geschieht dies deshalb, weil sich an diesem die verwandtschaftliche Zusammengehörigkeit der Gewächse am deutlichsten ausspricht. Oft aber spricht sich diese sehr bestimmt in allen Theilen zugleich aus. Ich erinnere Sie an den Lack, den Levkoy, den Raps, den Rübsen, den Senf, bei denen allen Kelch, Blumenkrone, Staubgefäße und Pistill an Zahl und Gestaltung ganz übereinstimmend beschaffen sind. Dasselbe gilt von der Wicke, der Erbse, der Akazie, dem Blasenstrauch, der Linse, der Hauhechel, der Bohne, dem Ginster. Die genannten Pflanzengattungen repräsentiren zwei sogenannte natürliche Familien. In diesen natürlichen Familien stehen die Pflanzen nach ihrer allseitigen natürlichen Verwandtschaft mit innerer Nothwendigkeit beisammen; daran läßt sich nichts deuteln und ändern. Denn Niemand kann es z. B. einfallen wollen, die Wicke aus dem Kreis ihrer genannten Familienverwandten herauszunehmen und in eine andere Familie, etwa zu den lilienartigen und rosenartigen Gewächsen zu stellen. Es steht also der willkürlichen Ordnung der künstlichen Systeme die nothwendige verwandtschaftliche Ordnung des natürlichen Systems gegenüber; es steht aber auch den vielerlei Ordnungen der ersteren, die eine des letzteren gegenüber. Da das natürliche System nichts anders ist und will, als eine wahrnehmbare Darstellung der in dem Gewächsreich liegenden verwandtschaftlichen Ordnung, deren es doch nicht mehr als eine geben kann, so kann es natürlich eigentlich auch nur ein natürliches Pflanzensystem geben. Wenn man gleichwohl ein natürliches Pflanzensystem von Decandolle, von Jussieu, von Richard, von Endlicher, von Reichenbach und Anderen hat, so fühlen Sie nun leicht, meine Damen, daß dies nichts anderes ist, als verschiedene Versuche, das eine, von der Natur selbst gegebene, natürliche System des Gewächsreichs nachzuweisen und darzustellen.

Ich wähle als den, welcher mir der gelungenste scheint, das natürliche Pflanzensystem von Reichenbach, um Ihnen darnach das Pflanzenreich übersichtlich vorzuführen, ohne mich, wenigstens in der niederen Hälfte des Gewächsreichs, streng daran zu binden. Ich werde meine Belege nur aus der deutschen Flora wählen, zu welcher ich auch die in unseren Gärten heimisch gewordenen Ausländerinnen ziehe.

Indem wir uns anschicken, das Gewächsreich nach dem natürlichen System zu überschauen, so fällt uns ein Unterschied zunächst auf. Eine ganze große Gruppe von Pflanzen hat keine eigentlichen Blüthen, wie wir auch im gewöhnlichen Leben jene oft so schmuckvolle Werkstätte der Samenbildung kennen. Wir alle wissen, daß Pilze, Flechten, Moose und Farrenkräuter und die im


  1. Die Frauen Leipzigs werden bekanntlich während der Wintermonate wöchentlich zwei Mal durch die naturwissenschaftlichen Vorträge der Herren Professoren Bock, Roßmäßler und Dr. Hirzel erfreut, welche großen Anklang finden und stark besucht werden. Wir freuen uns, den Cyclus der Roßmäßler’schen Vorlesungen auch unsern auswärtigen Leserinnen mittheilen zu können, zumal wir voraussetzen dürfen, daß dieselben überall so ansprechen, wie beim mündlichen Vortrage in Leipzig. Die Redakt. 
  2. Am 22. November 1855 in der chemischen Vorlesung des Herrn Dr. Hirzel.
  3. Die beistehenden Figuren waren in Riesengröße auf zwei aufgehängten Tafeln von zusammen etwa 100 Quadratfuß Flächenraum dargestellt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: C.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_024.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2020)