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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

No. 3. 1856.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Vorurtheile.
(Fortsetzung.)


Henriette erröthete und spielte einen Augenblick mit der feinen goldenen Kette, die von dem schlanken Halse über den weißen Morgenmantel herabfiel.

„Vater,“ sagte sie, „ich weiß, daß Sie eine offene Antwort fordern, und darum will ich sie Ihnen geben; aber Sie verzeihen mir,“ fügte sie mit einem unbeschreiblichen Blicke hinzu – „wenn sie nicht so ganz nach Ihrem Wunsche ausfällt. Der junge Freiherr mag allen Anforderungen der großen Gesellschaft entsprechen – den Anforderungen, die ich an meinen zukünftigen Gatten mache, entspricht er durchaus nicht.“

„Henriette, willst Du nichts weiter in Betracht ziehen, als nur die Ansprüche Deiner Person?“ fragte der Oberst, indem er einen forschenden Blick auf seine Tochter warf. „Giebt es für eine Eppstein keine andern Beziehungen; die zu erwägen sind?“

„Vater, meine ältere Sehwester Cäsarine hatte nur die Beziehungen im Auge, von denen Sie reden – sie war nur die folgsame Tochter eines hocharistokratischen Hauses, und ist in diesem Augenblicke eine unglückliche Gattin und Mutter. Dasselbe Schicksal steht mir bevor, und ich kann selbst sagen, ein noch schrecklicheres, wenn ich dem Schwager meiner Schwester die Hand reiche. Die Freifrau sucht für ihren jüngsten Sohn nicht etwa eine Gattin; sie sucht ein Vermögen für ihn.“

„O wie falsch sind Deine Ansichten!“ rief mit Bitterkeit der Baron; „die Familie Erichsheim zählt sich zu den reichsten unserer Provinz; Geld und Gut üben keine Gewalt über sie aus, nur die Ehre – –“

Henriette zuckte unwillkürlich zusammen; mit einer reizenden Impertinenz hob sie den Kopf und sagte:

„Vater, man erzählt den Tod des alten Freiherrn auf mancherlei Weise, und ich glaube, daß mir nur die gelindeste zu Ohren gekommen ist.“

Der Oberst schrak zusammen.

„Henriette, Du hast conspirirt, Du hast Erkundigungen eingezogen, die – –“

„Wahrlich nicht, mein Vater; was ich weiß, ist mir zufällig bekannt geworden.“

„Von jenem Herrn von Nienstedt?“

„Ich habe zu wenig mit ihm gesprochen, um die Unterhaltung auf solche Dinge leiten zu können.“

„Und was weißt Du, Henriette?“

„Daß die Freifrau mit ihrem ältesten Sohne, mit dem Manne meiner armen Schwester, den alten Freiherrn in einer Art von Wuth um’s Leben gebracht hat, als er sich weigerte, eine bestimmte Summe zu einem bestimmten Zwecke herzugeben. Man weiß, der Freiherr war sehr geizig, aber man weiß auch, daß seine Familie eben so verschwenderisch war. Vater, das schöne Gut Nienstedt ist Ihr alleiniges, unbestreitbares Besitzthum – bewahren Sie es, tragen Sie Sorge, daß nie einer dieser Verschwender seine Hand daran lege, noch irgend ein Recht der Verfügung daran erhält; es ist ja möglich, daß Ihren beiden Töchtern Nichts bleibt, als dies Asyl.“

Der Oberst war aufgestanden und ging in großer Bewegung durch das Zimmer. Er hatte am verflossenen Abende mit der alten Freifrau eine lange Unterredung gehabt; und wenn Henriette hierin die Impulse zu allen seinen Unternehmungen erblickte, so hatte sie Recht. Sie las es in den strengen Zügen des Vaters, daß seine Liebe und seine Intelligenz mit einem starken, gewaltigen Feinde im Kampfe lagen; mit einem Feinde, dem er nicht ausweichen konnte. Henriette hatte sich mit dem Muthe und der Entschlossenheit gepanzert, die ein bewährter Erfahrungsfall stets zu verleihen pflegt; sie stützte sich nachdrücklich auf das Unglück ihrer Schwester Cäsarine, und sie konnte es mit vollem Rechte, da ihre Verbindung mit Ignaz unter denselben Verhältnissen stattfinden sollte, als die Cäsarine’s bereits stattgefunden hatte. Dazu kam noch ihre Neigung zu Ludwig, den sie mit dem ersten jugendlichen Feuer eines unverdorbenen Herzens liebte.

Plötzlich blieb der Oberst vor ihr stehen.

„Mein Kind,“ sagte er, sie fixirend; „hast Du wirklich nur das Schicksal Deiner Schwester im Auge? Glaubst Du, daß Du ihr einst mit Deinem Erbtheile, mit Nienstedt, hülfreich beistehen müssen wirst?“

„O, gewiß, mein Vater, und ich schwöre Ihnen, daß es mit Freuden geschehen wird.“

„In diesem Falle bedaure ich, Dich dieser Freude berauben zu müssen – Ludwig von Nienstedt hat sich wieder angekündigt, wie Du weißt, und nach einer Klausel in dem Kaufkontrakte – ich erkaufte das Gut zu einem sehr billigen Preise – steht ihm fünfundzwanzig Jahre ein bedeutendes Besitzrecht zu. Er ist vor Ablauf dieser fünfundzwanzig Jahre erschienen, und ich bin verbunden, diese Klausel zu Deinem Nachtheile zu halten. Nur noch kurze Zeit hält man Dich für ein begütertes Mädchen, dann wird man Dich in die Kategorie der armen Fräulein werfen, deren Verheirathung nur ein Werk des Zufalls ist. Ich überlasse Dich jetzt Deinem Nachdenken, und hoffe, daß es Dir nicht schwer werden wird, das Beste für Dich und Deine Familie herauszufinden. Die Freifrau erwartet diesen Abend meinen definitiven Entschluß;

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_033.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)