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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

No. 6. 1856.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Blind und doch sehend.
Von Elfried von Taura.[1]
I.
Ein junger Arzt.

Hat so ein Jünger Aeskulap’s seine Medicin „durchaus studirt mit heißem Bemühen“ und zwar nicht blos als eine „melkende Kuh, die ihn mit Milch und Butter versorgt,“ sondern aus warmer Begeisterung für den ärztlichen Beruf, und tritt er nun in das Leben hinaus – mit welchen hochherzigen Träumen begrüßt er den Ort, den er sich zum Wirkungskreis erkor! Wie sieht er sich im Geiste schon als rettender Engel walten in den Häusern der Preßhaften und Elenden! Und sein Busen schwillt höher als je von Begeisterung für seinen edlen Beruf. Aber nur zu oft ist dieses Busenschwellen an der Schwelle seines Wirkungskreises sein letztes Glück, und eine fürchterliche Wirklichkeit voll Sorge, fruchtloser Mühe und fehlgeschlagener Hoffnungen läßt ihn ferner zu keinem freudigen Aufathmen kommen.

So erging es dem jungen Doktor Rudolf Grimm, der vor etwa zehn Jahren aus der luftigen Kaiserstadt an der Donau, wo er nach bereits bestandenem Staatsexamen noch einen praktischen Cursus in den dortigen berühmten klinischen Anstalten gemacht hatte, heimkehrte in seine Vaterstadt, einen großen nordostdeutschen See- und Handelsplatz, um da seine Laufbahn als prakticirender Arzt zu beginnen. Im Bewußtsein seiner Tüchtigkeit fühlte er sich zu der Hoffnung berechtigt, bald eine Praxis zu gewinnen, die ihm wenigstens ein bescheidenes Auskommen gewährte. Ganz und gar an seine Wissenschaft hingegeben, war er der Welt fremd geblieben und wußte daher nicht, daß dem Arzte seine Tüchtigkeit allein noch nicht zu einer Praxis verhelfe, daß er dazu, namentlich in einer Großstadt, eben so sehr der Empfehlung als der äußern Repräsentation, oder doch einer besonderen Gunst der launenhaften Glücksgöttin bedürfe. Rudolf aber war arm und in seiner Vaterstadt unbekannt. Seine Aeltern, „dunkle Ehrenleute,“ waren längst todt, und seine einzige noch lebende Verwandte, seines Vaters Schwester, war zwar eine reiche, kinderlose Wittwe, aber gänzlich mit ihm entzweit, seit er wider ihren Willen von der Theologie sich der Medicin zugewendet hatte. Früher hatte sie den verwaisten Jüngling nothdürftig unterstützt, von jenem Wechsel an aber ihre Hand völlig von ihm abgezogen. Nur eine kleine Erbschaft, die ihm gerade zugefallen war, hatte es ihm möglich gemacht, seine Studien fortzusetzen; dieselbe war aber auch fast Null für Null dabei aufgegangen.

Daß in der Töpferstraße Nr. 8 ein neuer Doktor eingezogen, war zwar auf dem runden Messingtäfelchen zur Seite der Hausthür unter dem Nachtklingelzuge zu lesen, und das Intelligenzblatt verkündete es auch männiglich im Weichbilde der Stadt. Aber wer nahm Notiz davon? Hätte Rudolf sich nur auf etwas Charlatanerie verstanden, hätte er z. B. auf sein ehrliches Gesicht und seinen Titel sich eine zierliche Equipage geborgt und wäre damit durch die Straßen gerasselt, als hinge das Leben von fünfzig Kranken an seinem Erscheinen, so würde er nicht lange auf gute Kundschaft zu warten gebraucht haben. Aber er war ein so grundehrliches Blut, daß er selbst vor der unschuldigsten Anwendung des „mundus vult decipi“ zurückbebte. So kam es, daß er ein halbes Jahr nach seiner Niederlassung außer einigen Armen, deren Honorar ein vergelt’s Gott war, nicht einen Patienten hatte. Dabei hatte er nicht nur seine Kasse wie seinen Kredit erschöpft, sondern auch, um nur sein Leben zu fristen, ein Kleidungsstück nach dem andern versetzt, und zuletzt sogar seinen kostbaren Schatz, seine Instrumente, die ihm in Wien baare dreihundert Gulden gekostet, zum Leihjuden schaffen müssen, um seine Miethe bezahlen zu können.

Es war wenig Tage nach diesem für ihn so traurigen Akt, als er gegen Mittag hungrig vor seinem Koffer knieete, und nach etwas Versetzbarem suchte, damit er nicht eines seiner theuren Bücher zum Antiquar tragen müßte, um sich eine Mahlzeit zu erzeugen. Da fiel ihm ein alter Schlüssel in die Hand. Obgleich dies kein Gegenstand war, der ihm helfen konnte, so behielt er ihn doch lange in der Hand und betrachtete ihn. Es war der Schlüssel zu seinem Vaterhause, das sich im Besitz seiner Tante befand und wo er ein Ausgestoßener war. Er hatte sich ihn als Gymnasiast, da er noch bei der Tante gewohnt, machen lassen, weil sie das Haus Tag und Nacht verschlossen hielt. Voll herber Erinnerungen wog er ihn noch in seiner Hand, als die Thür aufgerissen wurde. Den Schlüssel in den Koffer werfend, sprang er auf, um in die ausgebreiteten Arme eines jungen Mannes zu fliegen, dessen ganze äußere Erscheinung einen Künstler verrieth.

„Adolf, Du hier?“ rief der Doktor.

„Freilich, mein Junge“ – war die Antwort- „freilich bin ich auch einmal in’s heimathliche Nest geflogen. Donna Roma wollte mich lange nicht aus dem Garn lassen, aber endlich siegte Mutter Germania mit Hülfe einer blauäugigen Maid, die von der berliner Schloßfreiheit aus das Zaubernetz der Tiber-Circe so lange bearbeitete, bis keine Masche daran mehr ganz war. Seit zwei Monaten hab’ ich mich bei Sauerkraut und Pellkartoffeln wieder mit dem vaterländischen Fortschritt im Sande au fait gesetzt, und

seit vierzehn Tagen tret’ ich mit besonnenem Fortschritt das vaterländische

  1. Der Verfasser der preisgekrönten Novelle: „Die stille Mühle.“
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 69. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_069.jpg&oldid=- (Version vom 6.2.2020)