Seite:Die Gartenlaube (1856) 079.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

mußte sie stark erbrechen; wieder ward der alte Doktor Bamford gerufen, man sagte ihm, die Patientin leide an der Cholerine, und er verschrieb Pillen und Kalomel und Coloquinten. Er kam am Abend wieder, fand aber die Kranke noch in dem nämlichen Zustande. Seit dieser Zeit sah er sie nicht wieder; ehe er aber das Haus verließ, unterzeichnete er im Voraus eine Bescheinigung, daß Mistreß Palmer an der Cholerine gestorben sei. Ein anderer Arzt unterzeichnete eine ähnliche Erklärung, unter welche die alte taube Krankenwärterin gleichfalls ihre Unterschrift setzte. Am 29. September schrieb Palmer in sein Anschreibebuch: „Meine arme Frau starb 1 Uhr 10 Minuten.“ Am 8. Oktober schrieb er hinein: „In der Kirche gewesen, das heilige Abendmahl gefeiert.“ Die drei Lebensversicherungsgesellschaften zahlten die 13,000 Pfd. Sterling richtig aus.

Diese Spekulation hatte einen so günstigen Erfolg gehabt, daß Palmer sich bewogen fühlte, sie von neuem zu versuchen. Er hatte einen Bruder Walter, der schon am Delirium Tremens gelitten hatte. Nichtsdestoweniger gab es Aerzte, welche bezeugten, daß Walter Palmer sich einer guten Gesundheit erfreue, worauf es dessen Bruder gelang, verschiedene Lebensversicherungen zu der Verpflichtung zu bewegen, ihm beim Tode Walter´s die Summe von 15,000 Pfund Sterling auszuzahlen.

Walter Palmer war ein leidenschaftlicher Trinker; sein Bruder hatte also einen Vorwand, ihm einen Aufseher zur Seite zu stellen. Dieser Mann kostete ihn zwar 5 Pfd. Sterling die Woche, leistete dafür aber auch treffliche Dienste. Niemals erwachte Walter, ohne an seinem Bette eine Flasche Branntwein zu finden. Er trank stets, hustete viel und klagte über heftige Schmerzen in den Schulterblättern. Am 14. August 1855 kehrte Walter Palmer mit seinem getreuen Wächter von dem Wettrennen bei Wolverhampton in trunkenem Zustande zurück, was jedoch den gefälligen Diener nicht abhielt, ihm noch mehr zu trinken zu geben. In der Nacht bekam Walter eine Congestion, sein Bruder ward gerufen und reichte ihm ein Mittel. Walter starb noch vor der Ankunft des Dr. Bamford, welcher nicht anstand, ein Certifikat zu unterzeichnen, welches den natürlichen Tod des Gestorbenen bescheinigte. Die 15,000 Pfd. Sterling wurden übrigens diesmal nicht ausgezahlt und da William Parker diese Summe nicht reclamirte, entstand Verdacht. Dennoch ward keine Leichensection vorgenommen. Denn Palmer war in Rugely ein angesehener Mann, er hatte einen Geistlichen und einen Advokaten zu Brüdern, besaß herrliche Rennpferde, mit einem Wort, er war ein vollkommener Gentleman und Niemand wagte ihn anzuzeigen.

In seinen Hoffnungen diesmal getäuscht, glaubte Palmer jetzt durch Wetten bei der Steeple-Chase von Chrewsbury sich entschädigen zu müssen. Er begab sich dorthin in Gesellschaft eines intimen Freundes, Namens Parsons Cook, eines jungen Mannes von 28 Jahren. Eins von Cook´s Pferden trug den Preis davon, und der glückliche Eigenthümer des siegreichen Renners gab seinen Freunden im Wirtshause „Zum Raben,“ ein Diner, dem ein Gelage folgte, das mit Wein anfing und mit Grog endete. Beim ersten Glas Grog rief Cook: „Was ist in diesem Getränk?“ Aber Palmer leerte sein Glas in einem Zuge und nöthigte seinen Freund scherzend, das Nämliche zu thun. An demselben Abend ward Cook sehr unwohl und übergab dem Wirth 700 Pfd. Sterling, die er bei sich hatte, indem er, allerdings in trunkenem Zustande, Palmer beschuldigte, ihn vergiftet zu haben, um ihm sein Geld zu stehlen. Der Wirth wollte auf das Ansinnen eines Trunkenen nicht eingehen. Cook erholte sich auch und kehrte mit Palmer am folgenden Tage nach Rugely zurück. Aber bald nachher stellten sich die bedenklichen Symptome ein. Man ließ Palmer kommen, der ihm ein „beruhigendes“ Mittel eingab. Nachher wurden noch mehr Aerzte zugezogen, und einer derselben sah, wie Palmer dem Kranken zwei Pillen verschlucken ließ, nach deren Genusse der Letztere furchtbare Krämpfe bekam und nach kurzem Todeskampfe verschied.

In diesem Falle ließ sich eine Untersuchung nicht vermeiden. Der Vater des Verstorbenen schickte den Magen seines Sohnes dem Dr. Taylor, einem der geschicktesten Chemiker Londons, und dieser antwortete: „Der Tod ist durch den Tetanus und dieser durch Strychnin erfolgt.“ Tags darauf wurde Palmer unter der Anklage auf überlegten Mord in Verhaft genommen. Aber die Sache hatte damit noch nicht ihr Ende. Von den 700 Pfund, die Cook von Shrewsbury mitgebracht hatte, fanden sich nur 15 wieder. Das Register, worin er seine Wetten eingetragen, und das er auf dem Kamin liegen gelassen hatte, war verschwunden. Ferner wurde bewiesen, daß am ersten Tage nach der Krankheit Cook´s William Parker nach London geeilt war, um Wechsel mit der gefälschten Unterschrift Cook´s escomptiren zu lassen. Er hatte sich auf diese Weise 1000 Pfd. Sterling verschafft.

Nach der Verhaftung Palmer´s erhielt der Polizeichef vom Minister des Innern die Erlaubniß, die Leichen der Mistreß Palmer und Walter Palmer´s wieder ausgraben zu lassen. Die Eingeweide der Frau wurden gleichfalls von Dr. Taylor zur Untersuchung gesandt, und nach dessen Bericht, sowie nach dem Verdict der Todtenschaujury war der Tod der Mistreß Palmer nicht in Folge einer Cholerine, sondern in Folge wiederholter Dosen Antimon eingetreten, während Walter Palmer durch Blausäure und Cook durch Strychnin bei Seite befördert waren.

Wie Dr. Taylor sagt, brauchte der Giftmischer etwa ein halbes Jahr, um seine Gattin zu tödten, ein Jahr lang beförderte er die Ausschweifungen seines Bruders, damit dessen Tod als eine Folge des Trinkens, und nicht als eine Folge der Blausäure, wovon er in Wolverhampton kurz vorher eine Unze gekauft hatte, erschien.

Man kann sich denken, daß dieser Proceß in England die größte Sensation macht. Aber welch´ furchtbare Familientragödie enthüllt er auch! Der Vater Palmer´s stirbt nach Anhäufung eines großen Vermögens in mysteriöser Weise; eine Tochter stirbt in Folge ihrer Trunksucht, ein Bruder wird von seinem eigenen Bruder, die Frau von ihrem Manne vergiftet! Der Schwiegervater Palmer´s, Oberst Brooks, fällt durch die Hand eines unbekannten Mörders, seine Schwiegermutter stirbt an dem Gifte, welches er ihr gereicht. Vier illegitime Kinder finden in ein früzeitiges Grab, die legitimen haben das nämliche Schicksal. Vor einiger Zeit opferte er einen seiner Freunde, Mr. Bladen, vor zwei Monaten einen andern, Mr. Cook. Und als ob noch nicht genug Verbrechen damit auf das Haupt eines Menschen gehäuft wären, erzählt man sich, daß Palmer bei noch zwanzig Personen aus verschiedenen Orten Giftmordversuche machte. Das Gerücht sagt sogar, daß ihm der Tod Lord George Bentinck´s, des Sohnes des Herzogs von Portland, der als Führer der Protectionisten im Unterhause eine Rolle spielte, zuzuschreiben sei. Lord George starb plötzlich auf der Heimreise von dem Wettrennen bei Lancaster; das Buch, worin er seine Wetten verzeichnete, war gleichfalls verschwunden, und wie man versichert, war ihm Palmer eine bedeutende Summe durch unglückliche Wetten schuldig.

Uebrigens ist Palmer bis jetzt nur angeklagt; erst die Geschworenen werden das endgültige Verdikt sprechen, und da seine Schuld noch nicht streng bewiesen ist, so sind die Meinungen darüber noch getheilt; namentlich stehen sich in Rugely die Parteien schroff gegenüber, indem die „Palmeristen“ die Unschuld, die „Anti-Palmeristen“ die Schuld des Angeklagten behaupten. Wie es heißt, werden die bedeutendsten Juristen bei dem Prozeß mitwirken. Lord Campbell dürfte den Vorsitz im Gericht führen, Sir Alexander Cokburn das Amt des öffentlichen Anklägers übernehmen, der berühmte Advokat Wilkins und Sir Fred. Thesiger, Generalprokurator unter dem Ministerium Derby, den Angeklagten vertheidigen. Zum Schluß noch die Bemerkung, daß der Verkauf der Pferde des Angeklagten 4000 Pfd. Sterling aufgebracht hat. Der vierjährige Hengst Chicken ward für 800 Guineen verkauft, die achtjährige Stute Trickstreß kaufte Prinz Albert für 230 Guineen.




Vierundzwanzig Stunden in Venedig.

Der geflügelte Löwe von San Marco – das Sinnbild der alten Wunderstadt Venezia – war mir schon aus meinen jüngsten Jahren her ein Pförtner alles Geheimnißvollen und ein Schlüssel der reichsten Phantasie. Der würdige alte Graukopf, mein erster Lehrer in der Wissenschaft alles Geschehenen, mit seinem schiefgezogenen und so lehrreichen Munde, mit seinen humor-belebten Gesichtszügen, die eine große bewegliche Warze auf dem linken Nasenflügel keineswegs abstoßend, sondern nur noch ausdrucksvoller

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_079.jpg&oldid=- (Version vom 23.3.2017)