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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Kräfte niemals in anderer Weise oder auch nur mit größerer Machtentfaltung an dem Bau der Erdrinde gewirkt hätten, als sie noch heute an demselben wirken. Der Raum verbietet uns, auf das Nähere dieser interessanten und wichtigen Frage hier weiter einzugehen. Wer sie genauer kennen lernen will, wer überhaupt wissen will, auf welche Weise sich die Erde und die sie bevölkernde organische Welt durch ungeheuere Zeiträume hindurch nach und nach und stufenweise zu ihrer heutigen Gestalt und Vollkommenheit entwickelt haben, der muß sich in der zahlreichen und vortrefflichen Literatur über diesen Gegenstand einen Lehrer und Wegweiser suchen. Dieses ist um so leichter, als die Wissenschaft von den Entwicklungsverhältnissen der Erde in ähnlicher Weise wie die Astronomie eine solche ist, welche in ihren hauptsächlichsten Umrissen und Resultaten von jedem Gebildeten leicht begriffen werden kann. Unter den populären Bearbeitungen der Erdgeschichte, welche in den letzten Jahren in Deutschland erschienen sind, wüßten wir keine, welche wir mit besserem Gewissen unsern Lesern empfehlen könnten, als die Schrift von Roßmäßler: Geschichte der Erde, eine Darstellung für gebildete Leser und Leserinnen, Frankfurt, bei Meidinger, 1856. Roßmäßler, bekanntlich einer unserer beliebtesten und angesehensten Schriftsteller im Gebiete populärer Naturwissenschaft, hat mit diesem seinem neuesten Werk abermals ein Zeugniß für seine vorzügliche Befähigung in Behandlung dieser schwierigsten Art wissenschaftlicher Darstellung abgelegt. Niemand wird das Buch ohne ein Gefühl von innerer Befriedigung und zugleich von Bewunderung für die Forschungskraft des menschlichen Geistes aus der Hand legen. Wer in seinem Innern noch Zweifel darüber hegt, ob auch Alles, was uns die Geologen über die Vergangenheit und die Gegenwart unserer Erde versichern, auf unumstößlicher Gewißheit beruhe, wird diese Zweifel vor der klaren und überzeugenden Sprache dieses Buches und vor den darin ausgeführten sprechenden Thatsachen und Beweisen schwinden sehen. Der gewissenhafte Verfasser hält sich in seiner Darstellung nur an Thatsachen und vermeidet mit Recht jede Art unbegründeter Hypothese oder Schöpfungsgrübelei. Zahlreiche vorzügliche Abbildungen des auch sonst schön ausgestatteten Buches kommen überall dem Verständniß, welches ohne dieselben nur ein halbes sein würde, auf’s Glücklichste zu Hülfe und lassen den Leser hinter seinem Pulte ohne Mühe eine Reise durch alle Phasen und Wunder der Geschichte der Urwelt machen.

Was wir übrigens als einen ganz besondern und eigenthümlichen Vorzug dieses Buches, der dasselbe vor allen ähnlichen auszeichnet, hervorheben müssen, das ist die Anordnung seines Inhaltes in der Weise, daß die Darstellung nicht mit der Vergangenheit, sondern mit der Gegenwart der Erdgeschichte anhebt. Diese neue und gewiß praktische Idee des ausgezeichneten Verfassers findet ihren natürlichen Grund in dem, was wir bereits weiter oben über den Charakter der endgestaltenden Kräfte darzulegen Gelegenheit fanden. Diese Kräfte sind niemals und zu keinen Zeiten andere gewesen, als solche, welche noch heute und unter unsern Augen an der Gestaltung der Erdoberfläche arbeiten. Was die Gegenwart bewegt, bewegt auch die Vergangenheit, und indem wir die erstere kennen lernen, wird uns die letztere ihren inneren Motiven nach beinahe von selbst klar. Indem uns Roßmäßler das Jetzt kennen lehrt, bereitet er uns auf’s Trefflichste vor, das Einst und Sonst der Erdzustände mit Leichtigkeit begreifen und verstehen zu lernen. Indessen mögen wir an dieser Stelle die Bemerkung nicht unterlassen, daß es uns scheint, als führe dem Verfasser sein Streben, die Vergangenheit durch die Gegenwart zu erklären, etwas allzu weit auf die Seite derjenigen, welche annehmen, die Naturkräfte hätten auch in der Vorwelt niemals mit größerer Intensität gewirkt, als heute, da es doch hinlängliche natürliche Erklärungsgründe für die entgegengesetzte Annahme giebt. Auch über die bisher ziemlich allgemein gültige Theorie von der allerersten Entstehung der Erdkugel wie der Weltkörper überhaupt scheint uns Roßmäßler etwas zu sehr zweifelnden oder negirenden Ansichten zu huldigen. Für diese Theorie sprechen so viele unabweisbare Thatsachen der Astronomie und Geologie, daß dieselbe gewiß als etwas mehr denn als eine „durch und durch in der Luft schwebende Hypothese und deßwegen ohne alle Bedeutung“ betrachtet werden darf.

Mag dies übrigens sein wie es wolle, der Leser des Roßmäßler´schen Buches kann sicher sein, daß er darin nur Wahrheit und Wissenschaft in eleganter und allgemeinverständlicher Darstellung, findet, und er wird dasselbe mit Recht weit allen jenen, leider nur zu oft auf den Unverstand oder die Neugierde des Publikums berechneten Machwerken von unbekannten Verfassern vorziehen, sollten dieselben auch in Blättern und Zeitungen drei- und vierfach energischer und häufiger annoncirt und angepriesen werden.

L. B.–r. 




Eine Mahlzeit bei den Esquimaux.

Die Theile der Erdoberfläche, welche sich nach dem Nordpol hin um das große Polarmeer lagern und von größerem Flächeninhalt sind, als ganz Europa, bilden jenseits des arktischen Cirkels (zwischen dem 60sten und 70sten Grade nördlicher Breite) eine erhabene Wüste der entsetzlichsten Art. Innerhalb dieses Kreises ist Alles verschlossenes Prachtschloß des ewigen Winters. Tausende und aber Tausende von Meilen baum- und pflanzenlos ohne den bescheidensten Keim eines Gräschens, hier voller himmelstürmender Alpen ewigen Eises, dort ewige, schneeblendende frostgebundene Ebene, durch welche das Renn- und Elennthier jagen, und über welche die uralte Sonne sechs Monate lang, ohne einmal unterzugehen, hinstreift, ohne die Diamantburgen ewigen Eises nur zu erweichen, über welchen dann eine sechs Monate lange Nacht liegt, die oben im Himmel mit den feurigen, wilden Heeren der Nordlichter spielt, ohne daß von diesen elektrischen Feuermassen, welche die härtesten Metalle schmelzen, nur ein Atom von Wärme heruntersteigt. Die eine Hälfte dieses Cirkels auf der amerikanischen Seite, Jahrhunderte lang Kampfplatz der Expeditionen zur Entdeckung eines Seeweges nach den asiatischen und amerikanischen Gestaden jenseits unserer Halbkugel, hat unlängst den Triumph der Entdecker dieser „Nordwestpassage“ gesehen und kurz darauf die Passage und den ganzen Kampf mit furchtbar tragischem Effekt auf ewig geschlossen. Die letzte Scene war eine arktische Eiswüste mit den verstümmelten starren Gebeinen Franklin’s und seiner 158 Helden, die nach langem Kampfe mit Kälte und Hunger sich zum Theil gegenseitig selbst aufgegessen hatten, ehe sie vollends verhungerten und erfroren. Wenigstens fielen die Berichte der Esquimaux über die letzten Schicksale der Franklinianer in diesem Sinne aus. Was auch nähere Untersuchungen, die man jetzt anstellt, ergeben, der 1527 begonnene und 1854 geschlossene Kampf um die Nordwestpassage ist und bleibt durch ewige Eislabyrinthe und die darin einbalsamirten Franklin-Leichen geschlossen. In der Mitte dieser Scene erhebt sieh zugleich das Denkmal des französischen Lieutenants Bellot, der auf einer der letzten englischen Expeditionen, während er mit dem Fernrohre durch die Eismauern zu dringen suchte, plötzlich von dem arktischen Meere verschlungen ward: eine neun Fuß hohe Steinsäule mit einem Erdglobus auf der Spitze und verschiedenen Inschriftem welche es zu einem Denkmale der arktischen Expeditionen überhaupt machen. Am Fuße der Säule steht: Post-Office (Post-Büreau) und darüber ist ein Briefkasten angebracht, in welchem Jeder, der von der Beechy-Insel nach Europa schreiben will, seinen Brief stecken kann, vorausgesetzt, daß sich dort Korrespondenten und Leute finden, die Briefe zu besorgen. Dieser englische Briefkasten hat etwas Lächerliches, wie denn die ganze Säule, insofern sie über den Zweck, ein Monument für Bellot zu sein, hinausgeht, zugleich als das Denkmal der Beschränktheit und Hartnäckigkeit der englischen Admiralität gelten kann. Der Weg von England aus durch die Eis- und Kanallabyrinthe des arktischen Meeres auf der amerikanischen Seite nach der Behringsstraße ist nicht nur von vorn herein ein Hunderte von Meilen langer Umweg um Grönland herum, sondern erwies sich auch, noch ehe man acht Millionen Thaler für Expeditionen dahin verschwendet, als ein unmöglicher, auch vorausgesetzt, daß man durch gebrochene Eismassen die Passage wirklich fände, wie denn auch die jetzt wirklich entdeckte sofort als ganz nutzlos proklamirt ward. Der Weg auf der asiatischen Seite an Sibirien bildet von London aus nach der Behringsstraße fast eine gerade Linie durch lauter offenes Meer hin, welches im Juni vollkommen eisfrei ist,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 122. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_122.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)