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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

No. 11. 1856.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Das lebendig vergrabene Kind.
Vom Verfasser der schwarzen Mare
(Schluß.)

Der Wachtmeister ging, in dem doppelt erhebenden Gefühl seiner Amtswürde und einer guten That, und die Frau weinte.

Mare Müller wischte sich mit den magern Händen den Angstschweiß aus dem bleichen Gesichte. Bald darauf trat der Bauer mit zornglühendem Gesichte zu ihr.

„Stehe auf und mache Dich fort mit Deinem Balg!“

„Du hattest ihr ja Frist gegeben bis morgen, Väterchen,“ wiederholte ihm seine Frau.

„Schweig, Weib, keine Stunde mehr!“

„Bitte, laß sie doch hier, bis ihr Bräutigam kommt!“

„Wozu? Er darf sie ja nicht heirathen. Hast Du das nicht gehört?“

„Er wird schon für sie sorgen.“

„Er ist selbst ein Bettler. – Iß, Dirne, und dann packe Deine Sachen zusammen.“

„Die Arme,“ sagte die Frau bitter. „Sie soll ihre Sachen packen; sie hat ja nichts, als die paar Lumpen, die sie auf dem Leibe trägt, und das Kind dort.“

„Was geht mich das an!“

„Und wohin soll sie in diesem Lande, wo sie keinen Menschen kennt?“

„Ueber die Grenze muß sie, wie der Wachtmeister befohlen.“

„In dieser Kälte? Es friert, daß der Schnee pfeift.“

„Soll ich zum Bettler werden für sie?“

Er verließ zornig die Pirte. Die Bäuerin setzte sich zu der Kranken.

„Iß Deine Suppe, Mare,“ sagte sie, „und verliere nicht Deinen Muth. Fort mußt Du von hier; der Gospadorus hat es befohlen, aber ich bringe Dich zu meinem Schwager Siporis in Laudszen; da bist Du dicht an der Grenze, und dort wird man Dich nicht finden. Du kannst da bleiben, bis Dein Bräutigam zurückkommt, wo wir dann das Weitere überlegen.“

Die Kranke hatte Hunger, denn ihre Krankheit bestand wohl nur meist aus Schwäche wegen Mangels an hinreichender Nahrung. Die Trostworte der gutmüthigen Bäuerin schienen sie etwas beruhigt zu haben, denn sie verzehrte anscheinend gefaßter ihre Suppe.

Die Bäuerin hatte sie verlassen, kam aber schon nach kurzer Zeit zurück, und zwar mit einem verstörten Gesichte. In ihrer Begleitung war ein alter Litthauer.

„Mann, sprich Du zu dem Mädchen, ich kann es nicht,“ sagte sie zu dem Litthauer. „Das ist die Mare Milleris.“

„Mare Milleris,“ wandte sich der Litthauer an die Kranke; „ich habe Dir einen Gruß zu bringen von dem Martin Jurrot.“

Mare Müller fuhr lebhaft und freudig erregt auf; freudig, trotz dem verstörten Gesichte der Dienstfrau, das ihr nicht entgangen war.

„Dein Bräutigam ist er nicht mehr, Mare Milleris,“ erwiederte der Litthauer.

Der Kranken entfiel der hölzerne Löffel, mit welchem sie den Rest der dünnen Hafersuppe zu verzehren im Begriffe stand; sie sah starr, sprachlos den alten Litthauer an.

„Sein Vormund und das Gericht,“ fuhr der Bote des Unglücks fort, „wollten ihm nicht die Einwilligung geben zu der Heirath mit Dir. Das Gesetz gestatte es nicht, gaben sie ihm zum Bescheid; er sei arm, und Du desgleichen. Und dazu seiest Du eine Ausländerin, die ohne Erlaubniß der preußischen und russischen Regierung gar nicht hier in das Land hinein heirathen könne. Die Obrigkeit müsse Dich über die Grenze zurückschaffen, so wie man erfahre, daß Du mit einem Kinde angekommen seiest. Unter solchem Bescheid wurde das Herz des armen Burschen sehr traurig, und da hat er sich davon gemacht in die weite Welt; er sagte, er wolle nach Memel gehen auf ein fremdes Schiff. Mich schickt er, Dich und das Kind zu grüßen. Geld könne er Dir nicht schicken, er selber habe nichts.“

Mare Müller war auf ihr Lager zurückgesunken.

Der Hausherr trat wieder in die Pirte. Sein Gesicht zeigte noch mehr Härte als zuvor.

„Bist Du noch hier?“ fuhr er die Kranke an. „Du hast von dem Boten gehört, daß auch Dein Bräutigam Dich verlassen hat!“

„Soll sie denn von aller Welt verlassen werden?“ fragte die Frau weinend ihren harten Mann. „Mag sie sehen, wer sich ihrer annimmt. Komm, Weib, manche Arbeit wartet auf Dich, und Du, Mann, folge mir, damit Du noch einen Schnaps trinkst, ehe Du den Rückweg antrittst. Dirne, Dir rathe ich, daß ich Dich nicht wiedersehe.“

Er zog die Frau gewaltsam mit sich fort aus der Pirte; und der alte Litthauer folgte ihm eben so schnell in Erwartung eines Schnapses. Mare Müller war wieder allein mit ihrem Kinde. Sie gehörte, wenn auch nicht zu den stumpfen, doch zu den stilleren, ruhigern Menschen, die lebhafter, und mit seltenen Ausnahmen auch starker Gefühle nicht fähig sind. Aber welche Gefühle mochten in diesem Augenblicke in ihrem Busen stürmen!

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_141.jpg&oldid=- (Version vom 15.12.2017)