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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

auf den Beweggrund zu seiner Handlungsweise wirklich unschuldig zu nennen. Ein Spiel, das für ihn einen andern Reiz als den, welchen der Anblick des Schmerzes Anderer gewährt, haben mußte, nur ein Spiel konnte somit in dieser bisher geübten Gewohnheit gefunden werden.

Aber damit war freilich noch nicht die Ursache gefunden und erklärt, welche Veranlassung zu dieser ungewöhnlichen Neigung gegeben haben mochte, und für die Beurtheilung ähnlicher Fälle blieb es wünschenswerth, hierüber eine genügende Aufklärung zu erhalten. Eine von mir zufällig an der Mutter Robert’s im Umgange mit ihrem Dreivierteljahr alten Kinde beobachtete Spielweise leitete mich auf die richtige Spur. Die Mutter holte oft selbst ihren Robert aus der Anstalt ab, und brachte dann immer ihr kleines Kind mit. Wenn sie nun mit diesem scherzte und spielte, stellte sie sich gewöhnlich auch, als ob sie schliefe. Das Kind gab sich nun alle Mühe, die Mutter zu erwecken; wenn ihm dies nach langem Bemühen endlich gelang, so erschrak die Mutter scheinbar und that entweder, als fiele sie vom Stuhl, oder zeigte sonst welche Ueberraschung, was das Kind natürlich immer zum Lachen reizte. Oft, wenn das Kind die Mutter zu solchem Spiele durch Geberden aufforderte, diese aber vielleicht nicht eben Neigung zeigte, auf das kindliche Verlangen einzugehen, dann schlug die kleine Hand des Kindes nach der Mutter, worauf diese das Gesicht mit den Händen bedeckend sich weinend stellte, und sich geberdete, als empfinde sie großen Schmerz. Dem kleinen Herzen that dies natürlich leid und das Kind versuchte durch Gutmeinen, Streicheln und Wegziehen der Hände vom Gesicht der Mutter diese wieder zu beruhigen. Die Mutter aber ließ regelmäßig dies nicht früher gelingen, bis das arme Kind selbst zu weinen begann. Dann erst entfernte sie ihre Hände vom Gesicht und suchte nun ihrerseits das Kind zu beruhigen, und durch Lachen demselben zu beweisen, daß der Schmerz, den sie gezeigt, nur ein Scherz gewesen sei.

Dieses Spiel nun, von der Mutter, wie sie mir selbst zugestand, früher auch mit Robert ebenso ausgeführt, erklärte deutlich genug die Entstehung jenes vermeintlichen Grausamkeitstriebes. – Das scheinbar grausame Treiben Robert’s war offenbar nichts Anderes, als eine harmlose Fortsetzung jenes früher von der Mutter ihm gelehrten und mit ihr täglich gespielten „Schlafen und Erschrecken.“ Gewiß wurde die Mutter damals schon von der kleinen Hand geknippen oder geschlagen, aber das Kind lernte ja dabei keinen wahren, nur verstellten Schmerz kennen, die Mutter versicherte ihm selbst, wenn es weinen wollte: es habe ja nicht weh gethan, es seien ja ihre Thränen nur Scherz gewesen; um so fröhlicher wurde nun das Kind bei dem Spiele, um so gespannter seine Erwartung, wie es die Mutter nun machen werde, wenn sie wieder von ihm erweckt und erschreckt würde. – Was Wunder, wenn in der Folge, wo die Mutter nicht mehr Schlafen nur spielte, sondern wirklich schlief, das Kind in der ihm aufgedrungenen Täuschung befangen blieb, und immer wieder des alten lieben Spiels sich erinnerte, wenn er die Mama schlafen sah? Wie ungerecht, wie unverdient war die Strafe, welche der arme Kleine dafür empfing, daß er Wahrheit und Lüge, Ernst und Spiel, Lust und Schmerz nicht zu unterscheiden vermochte. Gestand nicht die Mutter selbst, daß er ihr, wenn sie ihn schlug, ganz mit denselben Worten: „ich habe ja nur Spaß gemacht,“ antwortete, die sie einst zu ihm redete, wenn er über den Schmerz, den er ihr mit seiner Hand verursacht zu haben glaubte, zu weinen begann? Er erwartete ja nun nicht mehr wirklichen Schmerz, sondern nur das heiter lächelnde Gesicht der Mutter zu sehen, wenn er sie aus dem Schlafe erweckte, oder wenn er die Hände ihr von den Augen zog, mit denen sie Weinen gespielt hatte.

Ich habe dieser Erzählung nur noch wenig beizufügen. Der kleine Robert wurde von mir nach jenem eben erwähnten Ausspruche über Schnecken und Fliegen etc. eines Andern belehrt. Ich zeigte ihm, wie diese armen Thiere, wenn auch nicht durch Schmerzenslaute, doch auch auf eine deutlich sprechende Weise uns anzeigten, wenn sie bei einer Berührung ihres Körpers Schmerz empfänden, und suchte ihm dann verständlich zu machen, daß diese Thiere unseres Mitleids und unserer Schonung um so mehr bedürften, je weniger sie in ihrer Hülflosigkeit durch Geschrei oder andere natürliche Waffen, durch Flügel, wie die Vögel, durch flüchtige Füße, wie die Hunde, Katzen etc. sich selbst vor drohenden Gefahren und Schmerzen schützen könnten. Der Knabe hörte mit Aufmerksamkeit und ohne eine neue Gegenbemerkung meine Belehrung an, und ich hatte die Freude, meine Worte mit dem besten Erfolge belohnt zu sehen. Der Knabe war nach jenem Vorfalle wohl noch zwei Jahre in der Anstalt, und nie wieder, weder bei mir noch im Elternhause gab er Veranlassung zu einer Klage über Rückkehr zu der alten üblen Gewohnheit.

Das Beispiel dieses Knaben ist lehrreich durch sich selbst, und enthält des Stoffes zu ernstem Nachdenken genug. Das hier besprochene Spiel zwischen Mutter und Kind wird in unzähligen Familien gespielt werden, und erscheint auf den ersten Anblick ganz unschuldig; nicht in allen Fällen wird auch dieselbe Ursache dieselben Folgen haben, eine Menge Nebenumstände können hier Anderes, Schlimmeres, bald Besseres bewirken. In jedem Falle aber steht fest, daß Eltern beim ersten Auftreten übler moralischer Erscheinungen an ihren Kindern zuerst ihre Umgangsweise mit den Kindern und ihre eigenen schlimmen Gewohnheiten gewissenhaft prüfen und bedenken müssen, ehe sie zu einem harten Urtheil oder zu Tadel und zu Strafe ihre Zuflucht nehmen. Denn ein ungerechtes Urtheil, eine unverdiente Strafe bewirken wie eine falsche Medizin in der Regel gerade die Fehler, welche zu heilen sie bestimmt waren. – Leider aber sind Eltern immer geneigt, die Verantwortung für das an ihren Kindern hervortretende von sich ab, das Verdienst an dem Besseren sich zuzuwenden. In beiden Fällen gewiß so lange mit Unrecht, als sie vor ihrem Gewissen sich nicht sagen können, daß sie beim Geschäft der Erziehung ihrer Einsicht und verständigen Liebe mehr, als dem Zufall und ihrer Launen gefolgt seien. –




Blätter und Blüthen.

Die physische Geographie des Meeres. Der Titel „Landratten“, womit Seeleute uns Binnenlandsmenschen beehren, darf uns wirklich nicht eben groß verdrießen, wenn wir bedenken, nicht nur wie wenig Kurage dazu gehört, auf zwei stämmigen Beinen über den Erdengrund hinzuschreiten, sondern wie wir auch über dem trocknen Drittel unseres Wohnplatzes die nassen zwei Drittel beinahe ganz und gar vergessen, sie wenigstens so schlecht kennen, daß wir uns in jeder Unterhaltung mit einem Seemann arge Blößen geben. Die Worte Nord- und Süd-Passat, Monsun, Calmen, Golfstrom sind uns zwar mehr oder weniger geläufig, aber gar Mancher würde in arge Verlegenheit kommen, wenn er über die Dinge, welche von diesen Namen bezeichnet werden, Rechenschaft geben sollte. Das Logbuch kennen wir zwar aus Marryat’s und Cooper’s Seeromanen als ein Buch, in welches der Seemann allerlei Bemerkenswerthes hineinschreibt, aber wie Wenige ahnen die großartige Bedeutung desselben für Wissenschaft und Wohlfahrt der Menschen. Klingt es doch vielleicht Vielen wie Uebertreibung, wenn man ihnen sagt, daß sie mit ihrem Wohl und Wehe in hohem Grade von den physischen Eigenschaften des Meeres abhängen, daß das Meer geradehin der große Regulator der Bedingungen alles organischen Lebens auf Erden ist.

Breite Landstraßen und schmale Pfade, bewegungslose Binnengewässer und mächtige Ströme, Berge und Thäler, den Kontrast warmer und kalter Landstriche dicht bei einander, scharfe Abgrenzung der Thier- und Pflanzenwelten nach ihren Wohnungsgebieten – dies Alles glauben wir nur auf dem Lande und doch finden wir es eben so gut auf dem offenen Meere. Neben den noch unentdeckten Central-Gebieten Afrika’s, Neuhollands und den ungeheuren brasilischen Waldflächen stehen noch viel umfänglichere Gebiete des Meeres, wohin noch kein Kiel gedrungen ist. Wie Viele aber glauben an ein buntes Durcheinander und über Kreuz und Quer der Schifffahrt. Haben wir auch eine Ahnung, ich rede nicht von den wenigen durch einschlagendes Wissen bevorzugten Landratten, von den wunderbaren Wegweisern den Kompas voran, die der Seereisende mit sich führt, während die unserigen fest an den Kreuzwegen stehen - haben wir auch eine Ahnung von ihnen, so staunen wir dennoch, wenn uns die Logbücher beweisen, daß kürzlich zwei amerikanische Klipperschiffe, ohne jemals Land zu sehen, den 7000 Meilen langen Weg vom Cap Horn bis Californien so genau und übereinstimmend steuerten, obgleich das eine dem andern um acht Tage in der Zeit nachfolgte, daß beide Reisen nach den Angaben der zwei Logbücher auf eine Karte gezeichnet zwei einander beinahe deckende Linien ergeben würden. Sie reisten nach Windkarten, wie wir nach Landkarten.

Kurz, das weite wüste Meer, das „große Geheimniß“, verdient diesen dichterischen Namen nicht blos in Beziehung der von ihm bedeckten ihm eigenen oder uns geraubten Schätze, sondern auch hinsichtlich unserer Unkenntniß von ihm.

Und dennoch lockt wie jedes Geheimniß so auch dieses unsere Neugierde, die sich zu edler Wißbegierde verklärt, mächtig an. Darum ist

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_151.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)