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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

No. 15. 1856.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Ein Familiengeheimniß.
Novelle von August Schrader.
(Fortsetzung.)

„Ich komme auf Deine Mündel zurück,“ begann Henriette wieder. „Was geschieht, wenn wider Erwarten ihr Kapital verloren gehen sollte?“

„Dann würde ich es Dir überlassen, für sie zu sorgen. Dieser Befürchtung will ich übrigens nicht Raum geben. Lebt Kolbert auch noch zehn Jahre, bleibt ihr Kapital dennoch gut angelegt.“

In diesem Augenblicke trat der alte Kassirer Lorenz ein.

„Was bringen Sie, Freund?“ rief ihm der Banquier entgegen.

„So eben geht eine telegraphische Depesche von Berlin ein – hier ist sie! Ich habe in Ihrem Namen den Empfang quittirt,“ fügte Lorenz hinzu, während Soltau den Brief erbrach und eifrig zu lesen begann.

„Edmund Kolbert ist todt!“ rief überrascht der Banquier.

„Diesen Mittag zwei Uhr ist er gestorben; die nächste Post wird mir seinen Todtenschein bringen.“

Henriette zuckte zusammen; mühsam erhielt sie ihre Fassung.

Dann fragte sie flüsternd: „Wer sendet die Depesche?“

„Sie ist ohne Unterschrift.“

„Seltsam!“ hauchte die junge Frau vor sich hin. Dann trocknete sie verstohlen eine Thräne, die ihrem schönen Auge entschlüpfte.

„Sind die Briefe von der Post geholt, Lorenz?“

„Ja, Herr Soltau.“

„Ich folge Ihnen in das Comptoir. Adieu, Henriette – diesen Abend besuchen wir das Theater!“

Der aufgeregte Banquier küßte seine Frau, und verließ mit dem Kassirer das Zimmer.

„Mein Gott,“ rief Henriette, indem sie den Blick zum Himmel wandte, „gieb mir bald Gewißheit!“

Abends besuchten die beiden Gatten das Theater. Gegen zwölf Uhr gingen sie schlafen, nachdem sie sich zärtlich eine gute Nacht gewünscht. Der Banquier dachte noch eine Zeit lang darüber nach, warum die anonyme Depesche gerade an ihn gerichtet gewesen, da man doch in Berlin nicht wissen konnte, daß er die Police angekauft habe. Der Tod des Versicherten war um dieselbe Zeit erfolgt, in der er mit dem Unbekannten Ertrag seiner Arbeit. Das Unglück ist der beste Lehrmeister, pflegt man zu sagen; Franz hatte von ihm gelernt, die Welt richtig aufzufassen und sich nach dieser Auffassung seine Bahn zu brechen. Den goldenen Spruch „Zeit ist Geld“ hatte er zum Prinzipe erhoben; er arbeitete, mied die Vergnügungen, deren seine wenigen Bekannten nacheilten, und fügte sich ruhig dem Laufe der Dinge. Der junge Commis hatte ein schönes, empfehlendes Aeußere, und seine Bescheidenheit machte ihn nicht nur beliebt, sie flößte auch denen, die ihn kennen lernten, eine Art von Achtung ein.

Als sein Vater, ein armer Professionist, starb, stand Franz allein in der Welt; er hatte keine Geschwister, keine Verwandte mehr. Sein Chef, der Wechselagent, zeichnete den thätigen Commis aus, er zog ihn zu den größern Gesellschaften und Festen, die in seinem Hause stattfanden. Bei diesen Gelegenheiten lernte er die Welt kennen, ohne sich ihr anzuschließen. Franz arbeitete den ganzen Tag; seine Mußestunden verwandte er zur Erlangung nützlicher Kenntnisse.

Der Wechselagent feierte seine silberne Hochzeit. Zu dieser Festlichkeit war eine große Gesellschaft, und auch unser Commis geladen. Hier sah er ein reizend schönes Mädchen. Die armen Menschen, die ungeliebt und unter stetem Arbeiten ihre Jugend verleben, sind besonders empfänglich für die verheerende Leidenschaft der Liebe, sie bemächtigt sich gewaltsam ihrer verlassenen, ungekannten Herzen. Alle ihre Kräfte und Neigungen vereinigen sich in dem Wesen, das sie fesselt. Aber wie selten bringen sie Eindrücke hervor, wie selten werden sie erhört! Getäuscht, verrathen

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_193.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)