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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Weimar und seine Dichter

Seit das kleine Athen durch seine Dichter, Künstler, Philosophen und Staatsmänner ganz Griechenland überstrahlte, hat sich nur einmal wieder ein gleich glänzender Kreis von hervorragenden Geistern zusammengefunden – im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts in dem kleinen Weimar (das man darum Ilm-Athen nennt). Weimar mit seinen engen, stillen Gassen und seinen wenn auch alten, so doch characterlosen Häusern sah damals, und sieht zum Theil noch jetzt aus, als sei es an das Schloß mit dem großen Parke angebaut worden, der sich an der einen Seite bis zu dem Lustschlosse Belvedère mit einem andern Parke und auf der andern mit dem Schlosse Tieffurt, ebenfalls mit einem Parke, fortsetzt. Es leben noch Personen, die sich erinnern, daß der weimarische Hirt mit lauten Horntönen täglich zur bestimmten Stunde die Rinder und Schweine der Bürger zusammenrief und zur Weide trieb, und als Goethe in dem Städtchen (1775) erschien, enthielt es in den kaum 700 Häusern etwa 7000 Einwohner, die sich um nichts weniger kümmerten, als um Literatur und Kunst, und sich durch Bildung so wenig auszeichneten, als ihre Straßen durch Beleuchtung, in denen man, bei nächtlicher Finsterniß, jeden Augenblick Gefahr lief, die Beine zu brechen. Und doch sagte Goethe einmal: „Ich habe fünfzig Jahre hier gelebt und obwohl ich viel herumgekommen, kehrte ich doch stets gern nach Weimar zurück.“ Diese anhängliche Liebe zu der kleinen Stadt theilten Alle mit ihm, die das Glück hatten, sich eine Zeit lang dort aufhalten zu können, und sie erklärt sich zum Theil durch die Reize der Umgebung, vorzugsweise aber durch das Thun und Wollen der herzoglichen Familie, die drei der ausgezeichnetsten Persönlichkeiten in sich vereinigte.

Einsiedel Frau v. Kalb. Die Brüder v. Humboldt. Schiller.  Wieland. Schwestern von Lengefeld. Herzog Karl August. Goethe.
u. Seckendorf.  (Frau v. Schiller. Frau v. Wolzogen.) 
Musäus.  Herder.  Kotzebue. Kuebel. 
 Herzogin Amalie.  Herzogin Louise.

Voran steht die verwittwete Herzogin Amalie, die Nichte Friedrichs des Großen, dem sie auch geistig verwandt war, während sie in ihrem braunschweigischen Blute den leichten Sinn und die Liebe zum Vergnügen geerbt hatte. Im achtzehnten Jahre verwittwet, mußte sie die Regierung des Landes und die Erziehung ihrer beiden Söhne übernehmen. Sie liebte Literatur und Kunst und schützte deren Pfleger. Sie componirte, malte und las die alten griechischen Dichter in der Ursprache. Sie setzte sich über alle Etikette hinaus und fuhr selbst einmal von Tieffurt mit sieben Freunden auf einem Heuwagen ab. Unterwegs wurden sie von einem Gewitter überrascht. Sie zog Wieland’s dicken Rock an und erschien so in ihrer Residenz. In ihren Briefen an Goethe’s Mutter herrscht die liebenswürdigste Herzlichkeit. Sie nennt dieselbe „Mutter“ und unterschreibt sich einfach: „Behalten Sie mir lieb und denken Sie fleißig an Ihre Freundin Amalie.“ Als Erzieher und Lehrer für ihre Söhne wählte sie Wieland – und dieser Schritt der Herzogin Amalie wurde von der allergrößten Bedeutung, denn mit ihm beginnt die große Zeit Weimars, und ohne ihn wäre weder Goethe noch Schiller noch Herder da erschienen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 317. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_317.jpg&oldid=- (Version vom 14.6.2021)