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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Als der Herr von Beck seine Wohnung betrat, eilte er in das Zimmer seiner Gattin. Es war leer.

„Wo ist meine Frau?“ fragte er das Kammermädchen.

„Die gnädige Frau läßt Ihnen sagen, daß sie einige kleine Einkäufe macht und in einer Stunde zurückgekehrt sein wird.“

„Jetzt? Jetzt?“ fragte der junge Mann überrascht.

„So eben ist ein Brief für den gnädigen Herrn angekommen.“

„Gieb!“

Hastig erbrach er das Couvert, das das Postzeichen „Karlsbad“ trug. Der Brief war von dem Arzte, der Wilhelminen dort behandelt hatte. Der zärtliche Ehemann sandte jeden Monat einen Brief über den Zustand seiner Frau ein. Jetzt empfing er die Antwort auf den letzten Brief. In fieberhafter Angst verschlang er die Zeilen. Dann sank er wie vernichtet auf einen Sessel.

„Großer Gott,“ flüsterte er, „das habe ich mir gedacht! Meine arme, arme Wilhelmine leidet an einem unheilbaren Uebel! Nur die zärtlichste Sorge kann sie mir noch einige Jahre erhalten! Sie darf es nicht wissen, und darum werde ich auch keinen hiesigen Arzt annehmen – sie darf nicht einmal ahnen, daß sie krank sei, denn das Bewußtsein der Krankheit vermehrt ihr Leiden. Während des Winters sollen die Vorschriften des Doctor G. befolgt werden, der den Zustand meiner armen Frau kennt, und mit dem Beginne des Frühlings gehen wir wieder in das Bad. Durch die Veränderung des Aufenthaltsortes lösen sich alle Verhältnisse, die mir lästig sind. Rudolphi ist ein Mann von Ehre, auf den ich mich verlassen kann, er wird mich in meinem Bemühen unterstützen. O, wäre doch der Winter erst vorüber!“

Sinnend verblieb er auf seinem Platze. Der Eintritt Wilhelminens schreckte ihn empor. In demselben Augenblicke sah er das Couvert auf dem Tische liegen. Bestürzt bemächtigte er sich des Papiers und verbarg es in seiner Tasche. Dabei entfiel dem armen Manne der eigentliche Brief, den er bisher, ohne daß er es wußte, in der Hand gehalten hatte. Er würde vielleicht den Irrthum gewahrt haben, wenn ihn das heute besonders bleiche Aussehen und die trüben Augen der jungen Frau nicht mit dem tiefsten Schmerze erfüllt und seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hätten. Das Bemühen, seinen Seelenzustand geheim zu halten, vermehrte das Schwierige seiner Lage. Er eilte der Gattin entgegen, küßte sie, und schloß sie innig an seine Brust.

Wilhelmine hatte die Folgen der Zerstreuung ihres Mannes bemerkt. Das Papier hinter dem Stuhle war ihr nicht entgangen. Das hastige Verbergen des Couverts hatte zwar nicht ihren Argwohn erweckt, denn ihre aufrichtige Liebe ließ keinen Verdacht aufkeimen; wohl aber ihre Neugierde, und die Neugierde flüsterte: warum hat Dein Mann ein Geheimniß vor Dir? Es wird sich bald zeigen, warum ihr an der Beantwortung dieser Frage doppelt gelegen sein mußte. Sie beschloß, sich des Papieres zu bemächtigen.

„Verzeihung, Cäsar, daß ich auf mich warten ließ!“ sagte sie bittend, indem sie ihm ihre kleine Hand reichte.

„Du weißt, mein Kind, daß ich nicht in Sorgen bin, wenn ich den Grund Deiner Entfernung kenne.“

Cäsar nahm seiner Frau zuvorkommend den Mantel ab. Dann band er ihr die Schleife des Hutes auf, und legte ihn auf die Toilette. Jetzt zeigte sich Wilhelminens zarte, edle Gestalt. Ihr elastischer Körper war zwar schmächtig, aber man konnte ihn nicht mager nennen. Und dabei standen die einzelnen Theile in dem reinsten Einklange. Hände und Füße waren klein wie die eines Kindes. Das hellblonde, starke Haar bildete über der schönen, weißen Stirn einen glänzenden Wellenscheitel. Das mattweiße ovale Gesicht war madonnenartig; es verrieth eine wunderbare Milde und Sanftmuth. Das große blaue Auge drückte eine leichte Melancholie aus. Wie ihre ganze Erscheinung, war auch jede ihrer Bewegungen aristokratisch. Die junge Frau mochte vielleicht zweiundzwanzig Jahre zählen. Sie war völlig dazu geschaffen, die schwärmerische Liebe eines von Natur sentimentalen Mannes zu erregen.

„Es ist hier kalt,“ sagte sie, indem sie sich an Cäsar’s Arm hing; „führe mich in Dein Zimmer, das geheizt ist, weil wir dort essen wollen.“

Der zärtlich besorgte Gatte kam der Aufforderung nach.

Man verließ das Zimmer; der Brief war gesichert. Nach Tische fand Wilhelmine Gelegenheit, einen Augenblick in ihr Zimmer zurückzukehren. Sie ergriff das Papier und las folgende Zeilen:

„Mein Herr!

„Nach Ihrem letzten Berichte unterliegt es keinem Zweifel mehr, daß sich in Ihrer Gattin eine Krankheit ausgebildet hat, die um so Besorgniß erregender ist, da die Wissenschaft kein wirksames Mittel dagegen kennt. Ein regelmäßiges, ruhiges Leben, Heiterkeit des Gemüths und Verminderung aller Aufregungen machen das Fortschreiten des Uebels langsam, und wenn nicht ein unerwarteter Zufall hinzutritt, läßt sich das Leben Ihrer Gattin auf Jahre fristen. Ich empfehle Ihnen die größte Aufmerksamkeit und erinnere Sie wiederholt an die Diätregeln, die ich Ihnen bereits früher aufgestellt habe. Tragen Sie Sorge, daß die Kranke nie ihren Zustand erfahre. Von einer Badekur im nächsten Jahre läßt sich eine gute Wirkung hoffen. Unterlassen Sie nicht, Ihrer Gattin alle Freuden und Zerstreuungen zu bieten, die den von mir ausgestellten Regeln nicht entgegen sind.

  Karlsbad. Doctor G. 

„Das ist seltsam!“ flüsterte Wilhelmine bestürzt. „Ich fühle mich wohl, und hier spricht man von einer gefährlichen Krankheit. Nun erkläre ich mir so Manches, das mir in dem Betragen Cäsar’s bisher dunkel geblieben. Er leidet meinetwegen, er leidet ohne Ursache! Was berechtigt ihn und den Arzt dazu, mich für krank zu halten? Ich habe nie geklagt, habe nie einer ärztlichen Behandlung bedurft. O mein armer Cäsar, in diesem Wahne darf ich Dich nicht länger lassen!“

Sie wollte sogleich eine Verständigung herbeiführen, wollte ihm den glücklichen Zufall mittheilen, der ihr das unglückselige Geheimniß entdeckt hatte; aber die zärtliche Sorgfalt für den geliebten Mann hielt sie wieder davon ab.

„Nein,“ dachte sie, „ich muß einen andern Weg wählen. Wenn er weiß, daß ich meinen vermeintlichen Zustand kenne, wird er sich mit neuen Sorgen plagen. Ich muß ihn auf eine andere Weise von dieser Sorgenlast befreien, damit er nicht wähnt, ich stelle mich stärker als ich bin, um ihn zu beruhigen. Cäsar darf nur dann erst erfahren, daß ich diesen Brief gelesen, wenn ich ihn von seinem Irrthume zurückgebracht habe.“

Sie verbarg den Brief in der Tasche ihres Kleides, und ging zu Cäsar zurück, der sinnend auf dem Sopha saß.

(Fortsetzung folgt.)




Drei Frauenbilder in Bayreuth.
1. Die Lieblingsschwester Friedrich des Großen.

Wir dampften von Leipzig nach dem Süden. Im dunkeln schwermüthigen Voigtlande sahen wir zur Linken südöstlich die Berge des Erzgebirges, zur Rechten nordwestlich die des Frankenwaldes (östlichen Theil des Thüringerwaldes) und vor uns südlich die Häupter des Fichtelgebirges. An manchen Stellen konnte man die Höhenzüge wahrnehmen, durch welche diese drei Gebirge verbunden sind. Beim Anblick des Fichtelgebirges wurde mir romantisch zu Sinne; die poetische Ader in meinem Herzen pulsirte. Im Schooße jenes kleinen deutschen Gebirges wurde ja jener wunderbare Hohepriester des ächt deutschen Herzenskultus geboren, der gleich einem morgenländischen Magus mit dem Zauberstabe der Poesie, dem Taktirstocke der süßesten zartesten Musik, die uns berauscht und im Rausche uns zwingt vor wollüstigem Seelenschmerz zugleich zu weinen und zu lachen, mit jenem Stabe, der Odin’s Zauberstab und Thor’s Hammer zugleich ist, alle gefühlvollen deutschen Herzen zwingt ihm zu folgen und mit ihm zu lachen, mit ihm zu weinen, mit ihm zu lieben. Deutschland, Europa, die Welt, die Neuzeit und das Alterthum haben keinen zweiten Dichter von dieser Seelentiefe und Eigenthümlichkeit wie Johann Paul Friedrich Richter aus Wunsiedel im Fichtelgebirge.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 368. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_368.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)