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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

No. 30. 1856.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Spiele des Zufalls.
Novelle von August Schrader.
(Fortsetzung.)

„Kutscher, ich will aussteigen!“ rief die Landdrostin im Tone des Schreckens, als sie den dicken Mann erblickte, der sich gemächlich neben ihr niederließ.

Aber der gräßliche Kutscher hörte nicht, er war beschäftigt, den langen Lorenz, der rasch die Thür zugeschlagen hatte, zu sich auf den Bock zu ziehen. In dem Augenblicke, als die Landdrostin ihr Rufen wiederholen wollte, hieb der Kutscher auf sein Pferd, und der Wagen fuhr rasselnd weiter.

„Das ist ja ein schändlicher Zufall!“ rief die erbitterte Dame.

„Schändlich, Madame! Dieses Adjectiv scheint mir unpassend zu sein!“ antwortete lächelnd der Senator. „Beruhigen Sie sich, ich trete Ihnen gern die Hälfte meines Wagens ab, und begleite Sie bis zu Ihrer Wohnung, die Sie bei diesem entsetzlichen Wetter zu Fuß nicht erreichen können. Dann trennen wir uns, und ich preise mich glücklich, Ihnen einen kleinen Dienst erwiesen zu haben.“

„Ich nehme diesen Dienst nur an, mein Herr, weil ich nicht anders kann.“

„Und ich leiste ihn, Madame, weil ich ihn nicht umgehen kann, ohne mich als einen unartigen Mann zu zeigen!“ antwortete der Senator, den diese Impertinenz verletzt hatte.

Eine Pause trat ein. Die Landdrostin zitterte vor Aufregung in ihrem Pelzmantel. Gottfried Christian Beck lächelte still vor sich hin, obgleich ihm der Zorn das Gesicht ein wenig röthete. Ein heftiger Wind peitschte den Regen an die Fenster des Wagens, in dem es stark dämmerig war. Der Senator dachte über den sonderbaren Auftrag nach, den seine Nachbarin dem Doctor Nataß gegeben hatte. Es war ihm lieb, daß er das Haus des Doctors beziehen würde, denn so war es möglich, etwas Näheres über die seltsame Frau zu erfahren, die ein impertinenter Zufall so hartnäckig mit ihm zusammenführte. Die Feindseligkeiten, die in einem Eisenbahn-Coupé begonnen hatten, wurden in einem leipziger Fiaker fortgesetzt.

„Bei dem Himmel,“ dachte Gottfried Christian Beck, „das ist mehr Verhängniß als Zufall!“

Der vorherrschende Zug in dem Charakter des Senators waar Gutmüthigkeit; aber wie alle gutmüthigen Leute, so braus’te auch er leicht auf, wenn sein Stolz verletzt oder eine seiner Schwachheiten angegriffen wurde, deren er, wie wir bereits mitgetheilt, mehrere besaß. Nach so vielen Mißgeschicken empfand er eine Art Mitleiden mit der armen Dame, deren Zittern er an der Bewegung des Atlasmantels verspürte.

„Madame,“ begann er, „ich bedauere herzlich, daß ich Ihnen gegen meinen Willen Verdruß bereite; der Zufall scheint es sich vorgenommen zu haben, Ihre Ruhe zu stören, und ich ärgere mich, daß ich mich als das Werkzeug dieses boshaften Zufalls muß gebrauchen lassen, der ich durchaus kein Interesse habe, Ihnen unangenehm zu sein. Vereinigen wir uns, dem Zufalle entgegenzuwirken.“

Der Senator erwartete eine höfliche, launige Antwort; er hatte sich getäuscht.

„Ich hoffe zu Gott, mein Herr, daß wir uns heute zum letzten Male gesehen haben!“ rief erbittert die Dame. „Man kann seine Vorkehrungen gegen Berührungen solcher Art treffen.“

In diesem Augenblicke hielt der Wagen. Lorenz sprang vom Bocke und öffnete die Thür. Die Landdrostin wollte aussteigen. Als sie die amaranthfarbige Livree mit den weißen Knöpfen erblickte, fuhr sie zurück und rief: „Der widerwärtige Mensch! Berühre Er mich nicht!“

„So steigen Sie allein aus!“ antwortete der erstaunte Diener, indem er zurücktrat.

Die alte Dame verließ stolz den Wagen, und verschwand in der Dämmerung. Lorenz sah, wie sie an dem Glockenzuge der nächsten Hausthür zog, und dann eingelassen ward.

„Regnet es noch, Lorenz?“

„Sehr stark, Herr Senator.“

„So setze Dich zu mir.“

Lorenz stieg ein. Der Fiaker brachte Herrn und Diener nach dem Hotel. Hier inquirirte der Senator den Kutscher, um zu erfahren, wie seine seltsame Feindin zum zweiten Male mit ihm in Berührung gerathen sei. Der vor Denunciation ängstliche Bursche berichtete treuherzig:

„Gleich nachdem Sie in das Haus des Doctors gegangen waren, kam jene vornehme Dame. Als sie sah, daß es regnete, rief sie mir zu: der Herr, den ich gefahren, hätte länger als eine halbe Stunde bei dem Doctor zu thun, sie wolle mir zwei Thaler geben, wenn ich sie rasch nach Nr. 11 in derselben Straße und dann nach Hause fahren wolle. Die Zeiten sind schlecht, man muß zu verdienen suchen – ich nahm das Geld, und ließ die Dame einsteigen. Ich fuhr sie nach Nr. 11, wo sie klingelte, und einen Brief abgab, ohne das Haus zu betreten. Dann stieg sie rasch wieder ein, und ich wählte den kürzesten Weg, um nach einer halben Stunde wieder zu Ihren Diensten zu sein. Da standen Sie vor dem Hause des Doctors – das Uebrige wissen Sie.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 397. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_397.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)