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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

„Er scheint mir ja beinahe schwachsinnig zu sein.“

„Eben darum.“

„Ich verstehe Sie nicht.“

„Der alte Geheimerath Gamkow ist eigentlich eine eben so gute, ehrliche, wie dumme und einfältige Haut. Aber er hat eine schwache Seite, der er Alles zum Opfer bringt; selbst dieses herrliche Mädchen hat er ihr aufgeopfert.“

„Ist der Mann wahnsinnig?“

„Nur ein Narr, oder, wenn Sie wollen, ein echter Beamter. Aber sehen Sie, er kommt auf uns zu. Seine Augen scheinen gerade Sie zu suchen, und ich möchte fast errathen, warum. Sie kommen von B.; Sie haben den Justizminister gesprochen; Sie werden bald die unglückliche Narrheit kennen lernen, für die er sein Kind dem Moloch dahinwirft.“

Der Geheimerath Gamkow näherte sich und seine Augen suchten mich in der That. Es war ein kleines vertrocknetes Actenmännchen. Auch das höchst unbedeutende Gesicht war vertrocknet; man konnte nur einen Ausdruck darin erkennen, den einer großen Aengstlichkeit. Diese Aengstlichkeit zeigte er auch in seinem Thun und Lassen. Ich hatte ihn bisher in den Gerichtssitzungen kennen gelernt. Bei jedem Worte, das er dort sprach, sah er sich furchtsam um, was für einen Eindruck es im Collegium hervorbringen werde; jeder Widerspruch brachte ihn in Verwirrung. Eine besondere Narrheit, von der mein Bekannter sprach, hatte ich an ihm nicht bemerkt. Ich war neugierig auf ihre Entdeckung. Mein Bekannter verließ mich, als das ängstliche Männchen sich näherte.

„Ah, ah, Herr College, sehen sich wohl unter den Töchtern des Landes um?“

„Ja, Herr Geheimerath!“

„Sind schön, recht schön. – Sind noch unverheiratet, Herr College?“

„Ja, Herr Geheimerath.“

„Auch noch nicht verlobt?“

„Nein.“

„Ah, schön, schön! Müssen sich hier verloben; meine Tochter, meine Marie soll die Brautwerberin machen; hat ohnehin mit Ihnen zu sprechen; soll Sie zu ihr führen; ist selbst schon verlobt mit einem hoffnungsvollen jungen Manne; gilt viel in B.; hat großen Einfluß bei allen Herren Ministern. A propos, Herr College, sind auf Ihrer Reise hierher durch B. gekommen. Auch bei Sr. Excellenz dem Herrn Justizminister gewesen?“

„Der Minister hatte mich ja zu sprechen gewünscht.“

„Ah, waren gar befohlen! Hohe Ehre! Großes Vertrauen! Seine Excellenz haben Ihnen gewiß auch von dem hiesigen Collegium gesprochen?“

„Einiges.“

„Ah, ah, auch von einigen Personen? Gewiß, gewiß.“

„Es ist möglich.“

„Haben Excellenz nicht gesagt, daß unser Vicepräsident bald abgeht? Ein würdiger Mann, verdienter Beamter; muß nothwendig bald versetzt werden, als Chefpräsident. Glauben Sie nicht auch?“

„Es ist nicht unwahrscheinlich.“

„Also wahr. Sehen Sie, also wahr. Und haben Seine Excellenz Ihnen nichts über seinen hiesigen Nachfolger gesagt?“

„Der Minister sprach über die Sache gar nicht.“

„Ah, Sie wollen mit der Sprache nicht heraus. Sie sind amtsverschwiegen; das ist brav; aber einem alten Collegen gegenüber, den die Sache so nahe angeht –. Ja, ja, man kann mich jetzt nicht mehr übergehen; man muß mir bei der nächsten Vacanz die Stelle des Vicepräsidenten geben; man hat mich lange genug übergangen, man hat mich ungerecht behandelt, meinen Patriotismus, meine Verdienste verkannt, meine großen Verdienste um das Vaterland. Man kann, man darf das nicht mehr. Ich habe mich jetzt unmittelbar an Se. Majestät den König gewandt; Ihnen im Vertrauen kann ich es sagen. Und mein künftiger Schwiegersohn, der in der Hauptstadt viel gilt, hat mich dort kräftig unterstützt, noch in diesen Tagen. Er hat auch wiederholt, was ich in der Supplik an Se. Majestät vorgetragen habe. Es ist nicht recht, daß die großen Verdienste und Aufopferungen eines alten, treuen königlichen Dieners so lange unbelohnt bleiben. Wissen doch, Herr College, wie ich mich für das Vaterland geopfert habe?“

„Ich bin nicht so glücklich. Ich bin fremd in der Provinz.“

„Ich werde es Ihnen erzählen. In dem unglücklichen Jahre (er meinte das Jahr 1806) wurde diese Stadt hier belagert. Ich war damals schon hier; bin hier geboren und erzogen, und auch immer geblieben; habe mich nie versetzen lassen; habe mein Eigenthum hier. Also in dem unglücklichen Jahre Belagerung der Stadt durch die Franzosen; fiel Bombe auf Bombe in die Stadt; eine schwerer und glühender als die andere; war damals junger Rath; war an keine Sitzung zu denken, auch an keine Instruktionstermine; saß Alles furchtsam unten in den Kellern und wagte sich nicht heraus. Ich allein hatte Muth und blieb in meiner Schreibstube und arbeitete; decretirte fleißig ab alle meine Nummern, lauter Cassensachen und Contumacialbescheide. Auf einmal, während ich mitten im Arbeiten saß, fiel eine schwere Bombe auf mein Haus, schlug durch Dach, Boden und Decke des Zimmers, neben mir nieder, zum Glück auch durch den Parquetboden in ein großes Sandloch und krepirte dort, ohne Schaden zu thun. Aber welch’ großes Unglück hätte da entstehen können; mein Haus zerstört, ich zerrissen. Wurde in der That todtkrank vor Schreck, lag sechs Wochen in Lebensgefahr. Und Alles unbelohnt geblieben! Alles! Bin noch Rath, wie damals. Nur Titel Geheimerath; muß endlich Präsident werden.“

Da hatte ich die volle Narrheit des alten Mannes. Er hatte schon seit 1806 daran gezehrt. Aber war es eine besondere Narrheit des Mannes? Will nicht in der Bureaukratie eben Alles Carrière machen? Und wird nicht jedes Mittel dazu in Bewegung gesetzt? Welche ganz andere Sachen werden da als Verdienste geltend gemacht! War nicht der alte närrische Mann, der nur die krepirte Bombe und seinen Schreck als Verdienst um den Staat aufrief, eine tausend Mal edlere Natur, als Hunderte von Subjekten, die Lakaien und Kammerjungfern den Hof machen und auf Bedienten- und Schergendienste sich berufen und nur berufen können, um befördert zu werden? Wie hoch stand er über seinem künftigen Schwiegersohne! Freilich, er wollte auch dessen Gemeinheit benutzen; er opferte für diese sogar sein Kind. Aber das war nur Folge seiner Narrheit, die ihn hier zurechnungslos machte. Ich hatte auch den Schlüssel zu der Verlobung und dem leidenden Gesichte seiner Tochter. Mir fiel ein, daß er mir gesagt hatte, sie wolle mich sprechen.

„Der wahre Verdienst,“ erwiederte ich ihm, „bleibt nie unbelohnt.“

„Gewiß nicht, gewiß nicht.“

„Aber wenn ich nicht irre, Herr Geheimerath, so sagten sie, Ihre Fräulein Tochter wünsche mich zu sprechen. Darf ich Sie bitten, mich ihr vorzustellen?“

„Sehr obligirt.“

Er führte mich zu seiner Tochter.

(Fortsetzung folgt.)




Land und Leute.
Nr. 6. Die Zigeuner an der Donau.

Wie die Raubthiere allmälig vor dem Fortschritt der Civilisation verschwinden, so gehen auf gleiche Weise die wilden Racen des Menschengeschlechts ihrem Ende entgegen. Wüstes Land wird eingehegt, Wälder werden niedergehauen, die Polizei tritt jährlich mehr in Wirksamkeit und die Pariahs verschwinden sammt ihren Subsistenzmitteln. In England gibt es höchstens noch 1500 Zigeuner, in Frankreich findet man sie fast gar nicht mehr; in Spanien schätzt der letzte Census ihre Zahl auf 30,000, die sich fast alle bereits in Städten angesiedelt haben. Vor Ende dieses Jahrhunderts werden sie wohl aus dem Westen Europa’s verschwunden sein.

Um sie in ihrem wahren Charakter und ihrer originellen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 496. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_496.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)