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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

das Alter der letzteren, die Anzahl der Hiebe, die Art des Vergehens – das ist Alles. Noch bündiger und einfacher ist die Eintragung in diese letzten Kolonnen. Fast immer wird die Ursache der Strafe mit einem einzigen Wort angegeben: „Pflichtversäumniß“ oder „Brutalität“ oder „Ungehorsam“ sind die drei Prädikate, die vorzüglich miteinander abwechseln. Diebstahl kommt sehr spärlich vor.

Vom 1. Januar bis zum Schlüsse des Jahres 1853 wurden laut dieses Register 507 Unglückliche, Frauen und Männer, Mädchen und Knaben, Farbige und Neger, mit Peitschen und Tamarindenruthen gezüchtigt. Ihre Richter bestanden aus Reichen und Armen, Gebildeten und Ungebildeten, Christen und Juden, Männern und Frauen. Wenn aber auch alle diese 507 Menschen dieselbe Anzahl Schläge empfingen, so war diese Strafe nicht für Alle gleich schwer. Der rohen Negerin, die seit ihrer frühesten Jugend Feldarbeit verrichtete und in der Negerhütte lebte, die zu unzähligen Malen Peitschenhiebe erhielt, der alle Gelegenheit zur Geistesbildung fehlte, wird es oft weniger kümmern, daß sie auf dem Richthofe nackt an dem Pfahl aufgezogen wird, dem wollüstigen Auge einer rohen Menge zur Schau. Wenn aber die Negerin in Paramaribo groß geworden ist, wenn sie dort zu häuslichen Verrichtungen benutzt wurde und in Folge dieses gewohnt ist, sich reinlich und sogar gefällig zu kleiden, wenn sie Bekanntschaften mit freien Leuten hat und in Beziehungen zu ihnen steht, dann wird die Strafe ihr nicht nur körperlich doppelt schmerzhaft sein, es wird sie bis in das Innerste ihrer Seele verwunden, wenn sie, wie die niedrigste Verbrecherin nach der Strafstätte geführt wird, sich dort vor aller Augen entkleiden muß und ihre nackten Glieder durch Henkershände angefaßt werden.

Und nun denke man sich ein jugendliches Mestizenmädchen, dessen Gesichtszüge, Haltung und Farbe ihre europäische Abstammung verräth; ein reizendes Mädchen, erzogen mit den Kindern ihres Herrn, welches sich auszeichnet durch Bildung und gute Sitten. Sie weiß so gut wie ihre Herrin, daß das Schamgefühl eine der schönsten weiblichen Zierden ist; ihre Ehre und ihr guter Name sind ihr Kleinodien. Durch Verkauf oder Erbschaft fällt sie in andere Hände, vielleicht in die einer Johanna. Gerade ihre vortrefflichen Anlagen und ihre Schönheit sind die Ursachen der Unzufriedenheit ihrer Gebieterin. Auch sie soll morgen nach dem Richtplatz geschickt werden. Welch eine Nacht voll Seelenleiden, schmerzhafter als die Quälereien am folgenden Tage, durchwacht sie. Und keine Macht der Welt kann dies Verhängniß von ihr nehmen. – Die Nacht voll Thränen und Verzweiflung wird vom Morgenroth besiegt, die Stunde kommt; sie wird zur Strafstätte geführt; dort werden ihre zarten Hände mit Stricken zusammengebunden, dort werden ihr die Kleider vom Leibe gerissen, dort wird sie völlig nackt den gierigen Blicken der Polizeibeamten und der erbarmungslosen Menge preisgegeben. Ist solches Seelenleiden nicht schmerzhafter als die Peitschenhiebe, die ihre zarte, weiße Haut zerreißen?

Und das Alles geschieht mit Genehmigung einer Regierung, die sich eine christliche nennt, geschieht in einem Jahrhundert und von einem Lande aus, das sich rühmt, ein „humanes“, ein „frommes“ zu sein. Das Alles ist von einem europäischen Staate gesetzlich eingerichtet und sanktionirt, dessen Organe sich spreizen, Civilisation und Bildung nach dem Westen zu tragen. Welch ein Jahrhundert!




Des Engländers Gastrolle.
Eine Erinnerung an Goethe und den „alten Herrn.“[1]

Wir saßen in einem großen Kreise um das rothglühende Kaminfeuer, das unsere Oberkörper vorn versengen zu wollen schien, während es vom Rücken her und an den Füßen – trotz des dicken brüsseler Teppichs – Schnupfen und Rheumatismus drohend entsetzlich „zog“. Die großen Bequemlichkeitsstühle, wie man sie in jedem höheren englischen Gesellschaftszimmer findet, hatten nicht hingereicht, allen Gästen den Rücken gegen den Charakter-„Zug“ aller englischen geheizten Stuben zu sichern. Ich hatte nichts als einen Rohrstuhl mit durchbrochener Lehne und saß dazu in furchtbarer Nähe der Thür, durch deren Ritzen und Spalten sich fortwährend zwölfreaumurgradige Eisluft heulend und heißhungrig nach dem Feuer drängte, während sich von vorn ein Klumpen Weißglühhitze mit Erfolg damit zu beschäftigen schien, mir die Kniescheiben und Schienbeine braunkrustig zu braten. Meine neuen Beinkleider gab ich mit einer gewissen Gleichgültigkeit auf, aber die Masse Rheumatismus, welche die Zugluft auf ihrem Wege in meinen Ohren, im Nacken, im Rücken, im Kopfe absetzte, durchschauerte mich mit einer schrecklichen Ahnung von Zahnschmerzen und einer stillen Wuth gegen den Konservativismus der Engländer, die solch’ einen Zustand, welcher genau dem der Verdammten in Dante’s Hölle gleicht (die bekanntlich unten im Eis sitzen, während sie oben fortwährend gebraten werden) noch immer „comfortabel“ nennen. Sobald ich Gelegenheit fand, fing ich denn auch an gegen dieses Comfortable zu protestiren, dem deutschen Ofen mit seinen stillen, im Verborgenen und solid wirkenden Tugenden eine Lobrede zu halten und meinen Platz aufzugeben. Daraus entspann sich ein Frag- und Antwortspiel über die Vorzüge, die Deutschland vor England und andrerseits England vor Deutschland habe. Dabei hatte ich natürlich eine schwere Aufgabe, als einziger Deutscher in der Gesellschaft 39 Vaterländer gegen eine ganze Armee, darunter recht wunderhübsche, blühende, naseweiße Damen, zu vertheidigen und obendrein mich selbst.

Der Kampf schwebte lange unentschieden hin und her. In meiner Disputirwuth vertheidigte ich sogar Kurhessen, da es wenigstens Oefen und eine schöne Stadt Bockenheim habe, einen klassischen Ort für England, welches schon vor 70 Jahren von daher Hülfstruppen gegen die Republikaner in Amerika und neuerdings angeblich 27 Mann Fremdenlegion bezogen habe. Doch selbst diese Geisterbeschwörung, selbst dieser erhabenste, aufopferndste Beweis von Patriotismus gab mir noch keinen entschiedenen Vortheil im Kampfe, so daß ich jedenfalls als der Besiegte mich hatte ergeben müssen, wenn nicht der Patriarch des Hauses, der Vater von neunzehn verheiratheten Kindern und Großvater von etwa vierzig Enkeln und Enkelinnen siegreich zu Hülfe gekommen wäre.

Er nahm die Brille ab, strich sich sein weißes Haar und gab mir in ganz hübscher, deutscher Sprache die Versicherung, daß er die schönsten Stunden seines nun vierundsiebenzigjährigen Lebens in Deutschland verlebt habe.

„Grandpapa,“ rief ihm jetzt eine sechzehnjährige, rosige Enkelin zu, „jetzt mußt Du Deine Geschichte erzählen. Mr. B., der auch zur Literatur gehört, wird sich sehr darüber freuen. Und dann ist sie für uns auch so hübsch, daß wir sie immer gern wieder hören.“

Well, well,“ fuhr der Alte wieder englisch fort, „das wollt’ ich eben. Auch sind noch Mehrere hier, welche Deutsch lernen und Goethe lieben und meine Geschichte noch nicht gehört haben. Nun gebt Acht, ich werde Euch zugleich erzählen, daß ich schon einmal Schauspieler gewesen bin und mehr Gage erhalten habe, als mancher erste Tenor.

„Meine Kinder haben schon oft gehört, daß ich mit dem Franzosen gar nicht übereinstimme, welcher ein Buch über Deutschland mit der Behauptung anfing: „Die Deutschen sind ein Volk, das Schulze heißt.“ – Ich nämlich behaupte, daß die Deutschen ein Volk seien, welches Müller heißt. Wir wollen hier diesen Streitpunkt nicht weiter untersuchen. Meine Kinder wissen wenigstens, daß mein deutscher Hauslehrer Müller hieß und eine ganze Menge Verwandte hatte, die auch alle Müller hießen. Alle Deutsche, bei denen ich eingeführt wurde, als er mit mir, seinem achtzehnjährigen Schüler eine Reise durch Sachsen, Thüringen u. s. w. machte, hießen ohne Ende und Aufhören Müller. Gut. Also wir reisten durch Central-Deutschland.“

„Muß Mittel-Deutschland heißen,“ fiel ich ein, „der Ausdruck „Central-Deutschland“ ist sogar gefährlich, da dies manchen kleinern Staaten ein Uebergewicht geben und die Extremitäten des deutschen Vaterlandes in Gefahr bringen könnte, ihr Selbstgefühl zu verlieren.“

„Schön, also Mittel-Deutschland. Aber damals war’s Central-Deutschland, wie die Sonne Centrum unseres Planetensystems

  1. Vergleiche Gartenlaube Nr. 1 und 2 von 1854.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 541. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_541.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)