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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

No. 41. 1856.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Die Rechte des Herzens.
(Fortsetzung)

„Gut, Georg; nur um eins bitte ich Dich,“ sagte Mutter Collin, indem sie ihrem Gatten das Brillenfutteral überreichte.

„Was willst Du?“

„Sei nicht zu hart mit dem armen Mädchen, und schone Herrn Adolf, wenn Du von ihm sprichst.“

„Ich weiß, was nöthig ist. Hast Du Dich getäuscht, wie ich glaube, so bleibt Alles beim Alten. Jetzt gehe und schicke mir unsere Tochter.“

Mutter Collin entfernte sich. Der alte Uhrmacher setzte die große Hornbrille mit den dunkelblauen Gläsern auf die Nase, denn mit ihrer Hülfe verstärkte er die schwache Sehkraft ein wenig, die ihm noch geblieben war, so daß er die Umrisse der Gegenstände in seiner unmittelbaren Nähe gewahren konnte. Gleich darauf erschienen Mutter und Tochter. Melanie eilte zu dem Vater, der in seinem Lehnstuhle saß, und küßte ihm, wie sie stets pflegte, wenn sie eintrat, die Stirn. Mutter Collin holte ein Packet Strickgarn aus dem Schranke, und legte einen Theil davon um die ausgebreiteten Hände Melanie’s; dann setzte sie sich ihr gegenüber und wickelte einen Knäuel. Es war dies das geeignetste Mittel, den ihr angedeuteten Zweck zu erreichen. Melanie hatte keine Ahnung von dem, was man mit ihr beabsichtigte. Vater Collin hielt sich für einen klugen Mann, und hier glaubte er, seine Klugheit im hellsten Lichte zu zeigen. Uebrigens war er von Herzen gut, wenn auch ein wenig heftig. Nachdem er wohl fünf Minuten nachdenkend die Decke angesehen, glaubte er den geeigneten Anknüpfungspunkt gefunden zu haben.

„Mutter,“ begann er, „unser stiller Miethsmann hat Dir also diesen Nachmittag seine Wohnung aufgekündigt?“

Die Alte nickte mit dem Kopfe.

„Das ist mir nicht lieb,“ fuhr der Vater fort; „er ist ein pünktlicher Zahler, und lieferte uns einen hübschen Beitrag zu unsern Ausgaben. Ich möchte wohl wissen, was für einen Grund der sonderbare Mensch dazu hat. Nun, meinetwegen mag er ziehen, wir werden schon einen andern Miethsmann bekommen.“

„Wie, Herr Mölling will ausziehen?“ fragte Melanie überrascht.

„Ja, mein Kind!“

Das junge Mädchen ließ die Hände sinken, und sah die Mutter an; aber ihre Züge verriethen nur Ueberraschung und nicht Schrecken, wie die beiden Inquisitoren erwartet hatten. Dann hob sie die Hände mit den Fäden wieder empor.

„Wie gesagt,“ begann der Uhrmacher nach einer Pause wieder, „ich habe nichts dagegen; nun werde ich auch das melancholische Geigenspiel nicht mehr hören, das mich so oft trüb gestimmt hat. Ja, wenn er lustige Weisen gespielt hätte, so wäre es eine Unterhaltung für mich gewesen! Die Nähe eines Menschen, der ein leidendes Gemüth hat, taugt nicht für einen Blinden.“

„Ach Gott, wenn wir nur nicht so arm wären!“ seufzte Melanie.

„Warum? Beklage ich mich darüber?“

„Das eben, lieber Vater, macht mir Kummer. Ich möchte Ihnen so gern ein sorgenfreies, freundliches Leben bereiten; aber meine Arbeit wird ja so schlecht bezahlt - -“

„Und mir macht es Kummer, mein liebes Kind, daß Du Dich für Deinen blinden Vater so abmühen mußt, daß Deine schönsten Jahre unter angestrengtem Arbeiten vergehen. Ach, uns hat ein trauriges Loos betroffen! Doch, fasse Muth, wie ich; der Himmel wird schon sorgen.“

Mutter Collin begriff, daß sie dem Gespräche eine andere Wendung geben mußte.

„Melanie,“ begann sie, „würdest Du Dich wohl entschließen, nach Moskau zu gehen, wenn Du dort so glücklich würdest, daß Du unsere Noth beseitigen könntest?“

„Nach Moskau?“ flüsterte das junge Mädchen bestürmt.

„Mutter, was schwatzest Du für Zeug?“ fuhr der Uhrmacher auf.

„Ich meine ja nur!“

„Um Gottes willen, Mutter, wie kommen Sie auf Moskau?“ fragte Melanie mit zitternder Stimme.

„Holla,“ dachte Vater Collin, „mir scheint, die Alte hat den rechten Fleck getroffen, ohne es zu wissen. Frau,“ sagte er laut, „es ist wahr, wie kommst Du auf Moskau?“

„Ich habe gehört, Herr Mölling wird bei einem russischen Fürsten in Moskau Kapellmeister, und erhält einen Jahresgehalt von tausend Rubeln. Der Fürst hält sich gegenwärtig in Genf auf; aber in acht Tagen will er abreisen, und seinen neuen Kapellmeister mit sich nehmen. Da habt Ihr den Grund, der ihn veranlaßt, seine Wohnung zu kündigen.“

„In acht Tagen schon reist der Fürst ab?“ stammelte das junge Mädchen.

„Unwiderruflich!“

Melanie erbleichte; ihre Hände zitterten so heftig, daß ihnen die Fäden entsanken..

„Du lieber Gott, Kind, was hast Du denn?“ rief die ängstliche Mutter. „Man möchte ja glauben, daß die Abreise des Fürsten Dein Unglück wäre!“

„Ich kenne ja den Fürsten nicht, liebe Mutter!“

„Das glaube ich Dir!“ rief Vater Collin, indem er aufstand. „Aber Du kennst den Kapellmeister, den er mit sich nehmen will.“


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 549. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_549.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2017)