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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Jetzt bemächtigte sich Adolfs eine peinliche Verlegenheit; er fühlte, daß er keinen Grund mehr hatte, länger zu bleiben. Trotzdem aber konnte er sich nicht entschließen, den Rückweg anzutreten, ohne über die dringendste und wichtigste Angelegenheit seines Lebens gesprochen zu haben. Eine zweite günst’ge Gelegenheit konnte sich ihm so bald nicht bieten.

„Der Brief ward als dringend bezeichnet,“ sagte er; „ich bitte, lesen Sie ihn - - “

Mit einer Art Aengstlichkeit schob Melanie den Kasten zu.

„Ich glaube den Inhalt zu kennen,“ antwortete sie; „eine vornehme fremde Dame gibt mir definitiven Auftrag zu einer Arbeit, die wir bereits besprochen haben. Die Heimlichkeit desselben ist mein Wunsch – ich habe meiner guten Mutter eine Überraschung zugedacht – der Ertrag der Arbeit ist zu einem Geburtstagsgeschenke bestimmt – ach Gott, welch’ ein trauriger Kontrast drängt sich mir auf!“ fuhr sie verwirrt fort. „Ich soll ein Trauerkleid sticken, und der Lohn für diese Arbeit ist zu einem Geburtstagsgeschenke bestimmt!“

„Ein Trauerkleid?“ fragte Adolf rasch.

„Die Dame ist so gut – wie bedauere ich, daß sie so unglücklich ist!“

„Die fremde Dame?“

„Sie weiß meine Arbeit zu schätzen. Ich forderte den in Genf gewöhnlichen Preis – die gute Dame zahlte mir fast das Doppelte.“

„Wer ist sie denn?“ fragte Adolf mit unsicherer Stimme.

Je länger Melanie sprach, je größer ward ihre Verlegenheit; man sah es ihr an, daß sie den angeregten Stoff benützte, um die Unterhaltung von dem Briefe abzulenken. Dem armen Adolf konnte nichts gelegener kommen; jedes Wort war für ihn von der größten Wichtigkeit.

„Ich weiß nur, daß sie die Gattin eines reichen holländischen Kaufmanns ist,“ fuhr Melanie fort, beichtend wie eine reuige Sünderin. „Den Kaufmann habe ich nie gesehen, sie lebt seit dem Frühjahre allein in einem Landhause, das unfern des Sees liegt. In dem Magazine, für das ich früher arbeitete, hat sie meine Stickereien kennen gelernt, und da sie eine große Freundin von feinen Arbeiten ist, hat sie mehrere Bestellungen bei mir gemacht. Die letzte ist ein Trauerkleid, – „Wen betrauert sie?“

„Ich weiß es nicht.“

„Ihren Mann?“ fragte Adolf, als ob er unfähig sei, richtig zu denken.

„Ich weiß es nicht!“ wiederholte Melanie mit steigender Angst. „Als ich das letzte Mal bei ihr war, erhielt sie einen Brief, der ihr die Trauerkunde brachte. „Großer Gott!“ rief sie aus, und Thränen rannen aus ihren Augen. Dann mußte ich ihr in das Landhaus folgen, wo sie mir hundert Francs auszahlte.“

„Ganz recht, Sie sind in dem Landhause gewesen.“

„Wie, Sie wissen, Herr Mölling –?“

„Sie haben es mir gesagt, Mademoiselle!“

„Ach ja!“

„Also in dem Landhause erhielten Sie Geld und den Auftrag, ein Trauerkleid zu flicken?“

„Die vornehme Dame sagte: „ich habe das Theuerste auf dieser Welt verloren, und werde eine tiefe Trauer anlegen; richten Sie danach Ihre Arbeit ein.“ Nun folgte eine kurze Besprechung. Ich entfernte mich – die arme Dame sank weinend auf einen Stuhl. Das ist Alles, was ich weiß.“

„Und jener Brief?“

Melanie’s Verwirrung hatte den höchsten Grad erreicht. Das beharrliche Fragen des jungen Mannes, dessen Zweck sie sich nicht erklären konnte oder falsch verstand, brachte sie außer Fassung.

„Der Brief gibt mir Andeutungen über die Arbeit!“ stammelte sie.

„In diesem Falle muß er doch eine Unterschrift haben. Mir liegt daran, den Namen der Dame zu erfahren.“

„Mein Gott, was kann Ihnen daran liegen!“ flüsterte die bestürzte Melanie. „Glauben Sie mir, es ist ein Geschäftsbrief –“

Sie konnte nicht weiter reden; Adolf’s unheimliche, durchbohrende Blicke raubten ihr die Kraft und den Willen dazu. Sie sank auf den Stuhl und bedeckte schluchzend ihr Gesicht mit dem Taschentuche. Adolf erschrak über diese heftige Gemüthsbewegung.

„Ich will Sie nicht kränken, Mademoiselle!“ rief er aus.

„Ach, wenn Sie wüßten, welche Gründe mich veranlassen, nach der Unterschrift des Briefes zu fragen. Ich schwöre Ihnen, daß das Glück meines Lebens davon abhängt. Mademoiselle, geben Sie mir Gewißheit!“

Melanie erinnerte sich des Verdachts, den ihre Eltern hegten; sie dachte daran, daß Adolf die Anstellung bei dem Fürsten abgeschlagen hatte – konnte sie noch zweifeln, daß er sie liebte, daß ihn die Eifersucht auf den Schreiber des Briefes stachelte?

Mitleidig sah sie ihn einige Augenblicke an.

„Sie wollen mich also der Ungewißheit nicht entreißen, die mich unglücklich macht?“ sagte er schmerzlich. „Ach, Sie wissen nicht, was ein zerrissenes Gemüth ist!“ fügte er schwärmerisch hinzu. „Leben Sie wohl!“

„Wohin wollen Sie?“ fragte Melanie, erschreckt über den seltsamen Gesichtsausdruck des Musikers.

Adolf verließ das Zimmer. Auf dem halbdunkeln Vorsaale fühlte er hastig seine Hand ergriffen.

„Zweifeln Sie nicht daran, Melanie liebt sie!“ flüsterte eine Stimme.

„Madame Collin, was sagen Sie?“

„Still, daß mein Mann nichts hört; er darf noch nicht darum wissen!“

„Um Gotteswillen, wenn Sie Recht hätten!“

„Ich täusche mich nicht. Gehen Sie, gehen Sie, es wird noch Alles gut werden!“

Die Stimme des blinden Vaters ließ sich hören.

„Gleich, lieber Mann!“ antwortete Madame Collin.

Dann schlüpfte sie in Melanie’s Stübchen. Adolf verließ die heiße Dachwohnung; er fühlte das Bedürfniß sich in der kühlen Abendluft zu erholen.

Als Mutter Collin leise eintrat, stand Melanie am Fenster und las so eifrig einen Brief, daß sie die Eintretende nicht bemerkte.

Thränen rannen über ihre rosigen Wangen.

„Melanie!“

„Mutter!“

„Was schreibt Dir Herr Mölling?“

Das junge Mädchen verbarg hastig den Brief; dann starrte es bestürzt die Alte an.

„Was er schreibt?“

„Leugne nicht, mein armes Kind, ich weiß nun Alles! Adolf hat Deinetwegen den Antrag des Fürsten abgelehnt, und Du – –“

„Mutter, Mutter!“ rief Melanie, indem sie sich an die Brust der alten Frau warf, um ihre Thränen und die Blässe ihres Gesichts zu verbergen.

„Ich brauche nicht weiter in Dich zu dringen, mein liebes Kind. Und nun beruhige Dich, Du weißt ja, daß ich nur Dein Glück will. Auf mich kannst Du zählen, aber den Vater müssen wir behutsam vorbereiten, er ist gegen Herrn Mölling eingenommen.“

Die Mutter eilte auf wiederholtes Rufen zu dem Blinden zurück, nachdem sie die Tochter zärtlich geküßt hatte. Melanie sank weinend auf einem Stuhle nieder.

(Fortsetzung folgt.)



Ein Besuch des Ophiantrums.

Nachdem wir fast alle Sehenswürdigkeiten der leipziger Messe angeschaut und bewundert hatten, schlenderten wir eines Vormittags in Begleitung einiger einheimischer Freunde vom Bau des neuen Museums hinweg, die Grimmaische Straße entlang, gegenseitig die stumme Frage in unsern Augen lesend, was nun? – als der eine Begleiter uns unter den Arm nahm, und schnelleren

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 552. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_552.jpg&oldid=- (Version vom 15.12.2017)