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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Im Gasthofe fand sich Alles bestätigt, was der Herr Klein gesagt hatte. Der Geheimerath reisete mit dem ersten Eisenbahnzuge ab, der nach Frankfurt ging. Auf dem ganzen Wege hatte er kein Wort gesprochen. Aber in Frankfurt wurde ihm wieder wohl; er sah preußisches Militair und den Bundespalast.

„Mit dem Herrn Klein hattest Du doch Unrecht, Charlotte,“ sagte er. „Er war ein wirklicher Polizeibeamter. Ich kenne die Menschen. Und wenn in Wiesbaden des sonntags die Läden verschlossen werden müßten, wie bei uns in Berlin, so wäre das ganze Unglück nicht passirt.“




(Fortsetzung folgt.)





Die Czarenstadt im Sommer 1856.
Nr. 1.
Der Eindruck Moskaus. – Der Bazar. – Eine Straße, die Repräsentantin des alten und neuen Russlands. – Buchhandlungen. – Büchertische. – Der alte Hultschin. – Sein Magazin. – Die russische Kunst. – Der Platz Bautechnisch und seine Kostbarkeiten.

Moskau mit seinen 450,000 Einwohnern macht in der heißen Jahreszeit auf den Beschauer den Eindruck der Oede und Einsamkeit. Das Bedürfnis, sich für einen fast achtmonatlichen Winter durch den Genuss des kurzen, aber rasch erblühenden Frühlings in der freien Natur zu entschädigen, macht sich mehr als irgendwo in einer so ungeheuren Stadt fühlbar, wo in der Sommerzeit der Mehrzahl des gemischten Publikums nur wenig oder sehr kostspielige Entschädigungen für die Entbehrungen des Winters geboten werden. Auch beeilt sich der Gutsbesitzer, mit dem ersten warmen Strahl der Maisonne seine gewöhnlichen Spazierfahrten von 500 bis 1000 Werst zu unternehmen, um sich auf seinen nahen oder fernen Besitzungen einige Monate lang dem Vollgenuss des süßesten far niete hinzugeben. Der wohlhabende Hauseigentümer bezieht seine Datscha im Sokolosero Walde, und Alles, was sonst nur Zeit und Mittel hat, sieht sich, oft schon in den Wintermonaten, nach einem grünen Plätzchen in Moskaus freundlichen Umgebungen um. Von nun an durchrollen wenig Equipagewagen mehr die unendlichen Straßen. Selbst auf der Iljinka, dem Börsenviertel der innern Stadt, wo sonst sich Pferde und Menschen in unablässiger Folge drängen und treiben, ist es still geworden, und auf dem Kusnetzky Most (der Schmiedebrücke), dem Mittelpunkte der Eleganz und der Mode, feiern die glänzenden Magazine, allenfalls sammeln sich Schaulustige an den Fenstern der Kunsthandlungen von Daziaro und Beckers.

Der in allen Städten Rußlands herrschende Gebrauch, dem Großhandel, so wie dem täglichen Handelsverkehr ein besonderes Quartier, einen Bazar anzuweisen, den Rußland mit dem Orient gemein hat, erstreckt sich in Moskau nicht blos auf die innere Stadt, sondern die Vorneigung des Kaufmanns, sich durch die gleiche Lokalität und dieselbe Industrie gleichsam zu associiren, macht sich auch in den entfernteren Straßen und Stadtvierteln bemerkbar. Unabgesehen von dem Einflusse, den die südlichen Nachbarn seit Jahrhunderten dabei auf den russischen Kaufmann ausgeübt haben, mag er ursprünglich wohl auch durch die Idee geleitet worden sein, daß da, wo alle Häuser gewissermaßen gezwungen sind, den gleichen Bedarf auszusuchen, auch die Verkäufer mehr Chancen haben, ihre Waare an den Mann zu bringen.

Vielleicht schreibt sich aus dieser orientalischen Verkehrsweise die Gewohnheit des Käufers her, aus einem Magazine in das andere zu schlendern, und dieselbe Waare erst in zehn Verkaufslokalen zu vergleichen und zu prüfen, ehe er kauft. Daran mußten sich unsere Kaufleute in Deutschland in den Jahren 1813 bis 14 auch erst gewöhnen, wenn damals die russischen Offiziere gruppenweise die Läden, gleichsam zum Spaziergange durchzogen, dann aber auch bei ihren Einkäufen so stattliche Preise zahlten.

Im ungeheuern Moskau entsteht aus diesem Gebrauche für den Käufer der Vortheil, daß er ziemlich genau weiß, wo dieser oder jener Artikel zu finden sei: auf der Mochawaja, auf der Strätenka die Möbelhändler, die Sargverkäufer; in der Nähe des Moskwastroms die Mehl- und Eisenhändler; auf der Iljinka die Schuhmacher, die Hutfabrikanten. Zugleich hat er die Annehmlichkeit der Auswahl und des durch die Konkurrenz bedingten ermäßigten Preises. Dagegen entspringt für den entfernter Wohnenden daraus auch die Unannehmlichkeit, um einer Kleinigkeit willen oft einen halben Tag aufopfern und eine förmliche Reise unternehmen zu müssen, oder für eine Droschka vielleicht mehr zu bezahlen, als der Plunder werth war, dessen er augenblicklich bedurfte. Ist mir zufällig mein Bedarf an Postpapier ausgegangen, brauche ich einen Bleistift, ein Packet geschnittener Federn, ein paar wohlfeile Handschuh, so finde ich das allenfalls etwas näher, aber für einen dreimal höhern Preis, oft auch gar nicht, oder ich muß nach „der Stadt,“ nach den sogenannten „Buden“ fahren, und dabei drei Stunden meiner kostbarsten Zeit verlieren.

Doch an Zeitverlust muß man sich überhaupt in Moskau gewöhnen, und den Ansprüchen an eine regelmäßige Benutzung jeder Stunde, die der Deutsche so gern an sich selbst stellt, allmälig entsagen, je mehr man Land und Leute kennen lernt.

Wenn ich einige müßige Augenblicke habe, so durchwandere ich gern die Nikolskaja, die Straße, welche für mich gewissermaßen die Repräsentantin des alten und des modernen Rußlands ist, so bunte Kontraste bieten hier die hohen, zusammenhängenden, in neuestem Styl aufgeführten Gebäude, die neu ausgeschmückten Kaufmannsläden, die reichen Julai’schen Stahlwaarenmagazine, mit den kleinen, einstöckigen Häuschen, an denen noch immer die alten steinernen Treppen hinlaufen, mit den Krümmungen der Straßen, den vorspringenden Mauern und dem bekannten unendlichen Hofraume, der von dem niedrigen, unansehnlichen Scheremetjeff’schen Häuserviereck umschlossen wird. Hier besuche ich gern die Läden der Bücherantiquare und der kleinen russischen Bücherverkäufer, deren Schilde meist die Aufschrift führen: „– – – auch werden hier Bücher eingekauft und umgetauscht.“ Die größeren russischen Buchhandlungen, deren es wenige gibt, sind hie und da zerstreut. Die ausländischen, namentlich die deutschen von Moritz Arlt, Deubner und Hoss, und die französischen von Urbain, Gautier, Renaud, nehmen noch immer die elegante Schmiedebrücke und deren Umgebungen ein. Eigentliche Verlagsbuchhandlungen gibt es noch nicht. Wer Lust hat, ein Buch herauszugeben, muß es auf eigene Kosten und Gefahr drucken lassen, es müßten denn unbedeutende Broschüren sein, wobei der Buchhändler nichts riskirt.

Die unbedeutendsten Bücherverkäufer, deren Artikel meist für das leselustige Publikum aus der niedern Volksklasse bestimmt sind, haben ihr ambulantes Magazin auf einem Holztischchen längs der Mauer unter einem Leinwanddache ausgebreitet, und verbinden damit häufig eine zweite Industrie, den Verkauf von ordinären Stahlwaaren, Messern, Scheeren, Leuchtern, Vorlegeschlössen. Hat der Verkäufer einmal für den Tag seinen Ausputz gemacht, seine Legenden der Heiligen, das Leben der heiligen Märtyrerin Barbara, Mazeppa’s Abenteuer, die Beschreibung des Troizki’schen Klosters etc. zurecht gelegt, und die Stahlstiche mit dem Leben Jesu und die Ansichten von Jerusalem und dem heiligen Grabe, die er, Gott weiß, welchem Almanach entnommen, auf den Bindfaden gereihet, so ist er fertig. Allenfalls vertieft er sich wohl selbst in das Lesen einer Scarteke, und scheint sich gerade nicht viel darum zu bekümmern, ob er den Mazeppa heute oder morgen verkauft, wenn er nur seine Ruhe hat. Ich möchte ihm zuweilen zurufen, wenn ich ihm gegenüber auf der andern Seite der Straße stehe, und dem gemüthlichen Faullenzer zusehe, was Treuttel in Paris einst dem Dichter Millevoie sagte, den er als Kommis lesend fand: „Jeune homme, vous lisez – vous ne serez jamais libraire

Von den Büchertischchen an der Scheremetjeff’schen gelben Mauer, die ich ihrer Länge wegen gern die chinesische Mauer benenne, komme ich zu den Bücherbrettern, die unter den Durchfahrten und Durchgängen der Häuser schon einen Schutz gegen Wind und Wetter gefunden haben. Hier finden die Liebhaber der französischen Romanliteratur eine reiche Auswahl ganzer und zerstückelter Exemplare des Eugene de Roltelin, Paul und Virginie, Honneur et vertu, Jean Hogar, und dazwischen lange Reihen von Duodezbänden der Histoire universelle par Mr. de Ségur. Hin und wieder ist auch die deutsche und englische Literatur dieser Gattung vertreten.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 626. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_626.jpg&oldid=- (Version vom 10.5.2018)