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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

an den Don Quixote des Cervantes. Zu ihnen gehört auch Goethe’s Werther. Darum scheut sich das Volk noch heute wie vom Anfange an, diesen blos für eine Romanfigur zu halten, es fühlt ahnend, daß es in ihm weit mehr vor sich hat. Es steht ja immer mit Staunen vor der Schöpfermacht und den Geschöpfen des Genies, weil es dieselben so wenig begreift als die Weltschöpfung selbst.

Kein Wunder also, daß man auch nach Spuren Werther’s suchte und sucht, wie nach denen eines seltenen Menschen, der wirklich einmal unter den Lebendigen gewesen. Bei uns ist das altehrwürdige Wetzlar wohlbekannt als ehemaliger Sitz des Kammergerichtes im heiligen römischen Reiche, aber weit über die Grenzen Deutschlands hinaus ist es berühmt als Schauplatz der Liebe und der Leiden Werther’s. Jahr aus Jahr ein erscheinen in seinen steilen Gassen deutsche und fremde Verehrer des Goethe-Werther, die das deutsche Haus aufsuchen, in dem die liebliche Lotte waltete, wie das Haus, in dem Jerusalem-Werther sich erschoß. Dieses letztere zeigt, wie es noch jetzt, wohlbehalten und vielbetrachtet aussieht, unser Bild.

Das Wertherhaus in Wetzlar.

Dann wandern sie in der Gegend umher, die im Werther so anschaulich geschildert ist: zu dem Wildbacher Brunnen, der in einer gemauerten Grotte entspringt, von einer majestätischen Linde überwölbt, und bekanntlich im Anfange des Romans beschrieben ist, wie nach dem Dörfchen Garbenheim, das unter dem Namen Walheim eine Rolle spielt, und in dem die alte Linde noch steht, die wie die Brunnenlinde den Reisenden Blätter und Zweige als Andenken spenden muß. Ein Hauptziel der Wanderungen aber ist das Werthergrab. Nun weiß man zwar, daß der junge Jerusalem, dessen Leben und Tod bekanntlich das Vorbild zu der zweiten Hälfte Werther’s war, an einer abgelegenen Stelle des Kirchhofs zu Wetzlar bestattet wurde, wo sich keine Spur mehr von dem Grabe findet; aber dieses wirkliche Grab sucht man auch gar nicht. Man wollte durchaus ein Werthergrab haben, und so gibt’s denn eines in dem Garten des Wirthshauses zu Garbenheim, einen grünen Erdhügel unter schönen Linden. Ein Mann nämlich, dem früher die Besitzung gehörte, ließ in dem Garten einen Hügel aufwerfen und darauf eine Urne setzen zum Andenken Werther’s. Im Jahre 1813 wurde diese ursprüngliche Urne von einem russischen General als höchst merkwürdige Werther-Reliquie entführt. Vor einigen Jahren erschien in Garbenheim ein anderer Russe, der das angebliche Werthergrab und dessen Umgebung maß und genau abzeichnete, um in seiner Heimath eine ähnliche, dem Andenken Werther’s gewidmete Anlage einrichten zu lassen. Studenten halten Commers an dem Grabe; schwärmerische Engländerinnen weinen noch heute dabei über die Liebe und das traurige Geschick Werther’s u. s. w.; wir aber sehen in Allem nur Zeugnisse von der unzerstörbaren Zaubermacht der Schöpfung eines wahrhaft großen Dichtergeistes.




Ein Besuch in Canton.

Zeitungsleser haben das Wort Canton neuerdings öfter sehen müssen, als ihnen auf die Letzt lieb war. Doch hört’s lange noch nicht auf. Die englische Flotte ist aus verschiedenen Gegenden der Erde nach Canton unterwegs, um den angefangenen Krieg fortzusetzen und sich auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege einen besseren Frenndschafts- und Handelsvertrag zu erwerben. „Höhere“ Politiker sagen: das machen sie ganz Recht! China muß der Cultur aufgeschlossen und aufgeschossen werden. Was kümmert’s uns, ob die englischen Behörden in China und zu Hause gelogen haben, um eine Kriegsursache anzugeben und gegen alle Wahrheit, gegen alle Thatsachen zu behaupten? Civilisation! Civilisation! Keine östliche Barbarei! – Wir wollen hier nicht untersuchen, ob man um der „Civilisation“ willen Nothlügen machen müsse. Es ist genug, wenn wir und andere ehrliche Leute behaupten und aus persönlicher wie historischer Erfahrung wissen, daß man sich niemals mit Lügen wirkliche Vortheile erwirbt. Was die Engländer mit ihrer auswärtigen Politik betrifft, so ist allerdings Lüge und Gewalt (gegen Schwache) Geschäftsordnung, aber die „Nation“ büßt dafür und wird immer ärmer, je mehr sich die Einzelnen bereichern. Sie haben keinen reellen, dauernden Vortheil davon. Mit der besten Politik, nämlich der Ehrlichkeit, haben sie’s noch gar nicht versucht.

Ein Besuch in dem noch unzerstörten Canton, den wir mit dem Leser machen wollen, wird schon allein zeigen, daß die Engländer trotz der Beschränkungen, denen sie sich nach ihrem eigenen Vertrage von 1843 unterworfen hatten, Berührungspunkte genug hatten, um Handel zu treiben und sich durch dessen unwiderstehliche Macht civilisirenden und cultivirenden Einfluß zu verschaffen. Aber dieser ehrliche, solide Weg ist ihnen nicht rasch genug. Sie wollen schnell, also durch Betrug und mit Gewalt auf Kosten ihrer Kunden reich werden.

Canton, die blühendste Seehandelsstadt und Residenz eines ziemlich selbstständigen Vicekönigs, breitet sich, wie London an der Themse, erst mehrere Meilen von der Mündung des Flusses, dem Tschukiang, in einer Ebene an den Flußufern aus. Vom Meere aus fährt man durch die Anson-Bay zwischen felsigen Vorgebirgen in den weiten Fluß hinein, auf welchem die riesige Stadt sich bald durch Vorboten ankündigt. An den Ufern winken Dörfer und Städte, auf dem Flusse werden die sonderbaren chinesischen Schiffe und Boote immer dichter. Diese beinahe rechtwinkeligen Kasten mit drei Balken statt der Masten in der Mitte, mit Etagen, die just wie Kartenhäuser in größerem Maßstabe aussehen, angemalten, grünen Drachen mit blutrothem Rachen, blutrothen Flaggen und Segeln und ein paar großen, vorn angemalten Augen, machen einen unwillkürlich lächerlichen Eindruck, wie Schifffahrt in der ersten Kindheit. Und doch fahren die Chinesen länger zur See, als irgend eine alte oder spätere Nation! Sie sind aber so wenig Kinder in dieser Kunst, daß die chinesischen Schiffsbauer sehr oft bessere amerikanische und englische Clippers und Schooners und Barken bauen, als die berühmtesten nautischen Architekten in New-York oder London – aber blos für Ausländer auf Bestellung. Die viereckigen Kasten für die Chinesen sind eine alte Gerechtigkeit, wovon

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 281. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_281.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)